Erfahrungsaustausch "Kirche und Corona - was bleibt?" Bischof Jeremias: "Wo Ungeimpfte ausgegrenzt wurden, sind wir als Kirche schuldig geworden"

Zum Debatteneinstieg erzählen fünf Menschen aus MV von ihren Erfahrungen zu Corona-Zeiten.

Foto: A. Klinkhardt

29.01.2024 · Salem. Nach Ansicht von Bischof Tilman Jeremias hat die Kirche während der Corona-Zeit auch Schuld auf sich geladen. „Da, wo wir als Kirche Menschen ausgegrenzt haben, sind wir schuldig geworden“, formuliert er bezogen auf Menschen, die die Corona-Maßnahmen kritisierten oder sich nicht impfen ließen. Unter anderem dieses Fazit zog der Bischof im Nordkirchen-Sprengel Mecklenburg und Pommern am Sonnabend in Salem bei einem Erfahrungsaustausch unter dem Motto „Kirche und Corona - was bleibt?“, an dem fast 100 Menschen aus evangelischen Gemeinden in MV teilnahmen.

Der Streit über die Maßnahmen und die Impfung habe durch viele Familien im Osten einen Riss gehen lassen und auch die Kirche vor eine Zerreißprobe gestellt, erklärte Jeremias als Gastgeber. Bei vielen seien tiefe Verletzungen entstanden, „und das kann uns als Kirche nicht egal sein“. Die Kirche sei auch kein Gesinnungsverein, in dem alle die gleichen Ansichten haben müssten.

 

"Als Verräter an der Nächstenliebe gebrandmarkt"

 

Der gegen Corona ungeimpfte Pastor Michael Giebel aus Altentreptow bei Neubrandenburg sagte, ihm sei es gelungen, seine Gemeinde trotz unterschiedlicher Positionen zum Umgang mit Corona zusammen zu halten und der Zeit positive Erfahrungen abzugewinnen. Aber auch seine „Tiefpunkte“ benannte er: „Ungeimpfte wurden als Verräter an der Nächstenliebe gebrandmarkt“, beschrieb er mit ruhiger Stimme. Man habe sie als verantwortungslos hingestellt, auch wenn sie vielleicht vorsichtiger agierten als Geimpfte, die das Virus ebenfalls verbreiten konnten.

 

„Und man hat sie pauschal in die rechte Ecke geschoben“, sagte Giebel. Wer etwa gegen die geplante Impfpflicht demonstrieren wollte, habe schnell im Verdacht gestanden, sich den „Rechten“ anzuschließen. Ähnliche Kritik äußerte die Ribnitzer Pastorin Susanne Attula: „Die Freiheit, mich für oder wider etwas zu entscheiden, gehört zur Würde des Menschen“, argumentierte sie.

 

"Warum habt Ihr dazu geschwiegen?"

 

Weitere Punkte kamen in der eineinhalbstündigen, friedlich geführten Debatte zur Sprache: Kirche habe zugelassen, dass Schwerstkranke und Alte allein sterben mussten, weil Corona-Maßnahmen selbst auf Palliativstationen und im Hospiz durchgezogen wurden. „Warum habt Ihr dazu geschwiegen?“, fragte der Krankenhausseelsorger Leif Rother, der in fünf Krankenhäusern der Müritzregion arbeitet. Andere erinnerten daran, dass kirchliche Vertreter die Notwendigkeit der Seelsorge in der Corona-Zeit durchaus zur Sprache gebracht und unbürokratische Lösungen gefunden hätten.

 

Rother kritisierte zudem: Elementare Persönlichkeitsrechte der Menschen seien verletzt worden, und die Kirche habe anders als zu Zeiten der friedlichen Revolution keine Räume geboten, um sachliche Argumente breit zu diskutieren. Karl-Georg Ohse, Leiter des Projekts „Kirche stärkt Demokratie“, hielt dagegen: Zumindest einzelne Debatten-Angebote im Raum der Kirche habe es gegeben, etwa ein Online-Forum seines Projekts und das Nikolai-Quartett in Rostock. „Gerade von Seiten der Corona-Skeptiker kamen beim Quartett aber die immer selben demokratiefeindlichen Parolen.“

 

"Ich bin nach diesem Vormittag tief dankbar"

 

Viele weitere Männer und Frauen treten im Laufe der eineinhalb Stunden ans Mikrophon, schildern ihre Perspektive, fast alle in ruhigem Tonfall. Sichtbar werden auch Dilemmata der Leitenden: etwa, Entscheidungen treffen zu müssen, die den einen recht zu geben scheinen – während man einzelne Argumente anderer vielleicht teilt. „Eine eigene Meinung zu haben, heißt auch nicht, dass ich sie in einer Leitungsfunktion zur allgemeinen Maxime machen kann“, erklärt Pastor Wulf Schünemann, der zu Corona-Zeiten als Propst im Amt war.

 

Am Schluss macht sich Dankbarkeit für die offene friedliche Debatte breit. Auch Bischof Jeremias sagt: „Ich bin nach diesem Vormittag tief dankbar.“ Anders als in den westlichen Landeskirchen, wo zu Corona-Zeiten weitgehend Einigkeit herrschte, hätten die Kirchen im Osten heftige Differenzen erlebt: „Der Streit um die Maßnahmen und die Impfung hat uns als Kirche vor eine Zerreißprobe gestellt.“ Die heutige Debatte sei ein erster Schritt in Richtung Versöhnung. „So sollten wir weiter unterwegs sein als Kirche.“

Quelle: epd/Evangelische Zeitung