Greifswalder Ukrainist Roman Dubasevych im Gespräch "Einen tiefen Frieden wird es so schnell nicht geben"
24.02.2023 · Greifswald. Zum ersten Jahrestag des Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar blickt der Greifswalder Ukrainist Roman Dubasevych skeptisch auf die Möglichkeit eines stabilen Friedens. Als Grund dafür sieht er einen „Krieg der Kulturen“.
Herr Dubasevych, am 24. Februar jährt sich der Angriff Russlands auf die Ukraine. War dieser Überfall vorhersehbar?
Roman Dubasevych: Ein offener Krieg in Europa bedeutete natürlich einen großen Tabubruch, das Überschreiten einer zivilisatorischen Schwelle. Aber die Zeichen standen schon lange auf Konfrontation. Dem Krieg ist eine lange Zeit des gegenseitigen Misstrauens und Entfremdung vorausgegangen. Natürlich ist Russlands Präsident Putin der Aggressor und damit der Hauptverantwortliche für den Krieg. Aber es war und ist eben auch ein Krieg zwischen den Staaten und Kulturen. Von beiden Seiten wird er als Kampf um die eigene Identität oder sogar Zivilisation empfunden, was ihm eine besonders verhängnisvolle Dimension verleiht - es geht wieder um alles oder nichts.
Was meinen Sie mit „Krieg der Kulturen“?
Dubasevych: Es ist bemerkenswert, dass beide Seiten ihren Kampf nicht nur als Verteidigung gegen eine militärische Bedrohung interpretieren, sondern als Kampf um das Überleben ihrer Zivilisation: Während Russland seien Angriff auf die Ukraine mit dem Schutz der „russischen Welt“ begründet, fühlt sich die Ukraine als Bollwerk der Demokratie und europäischer Werte gegenüber einer asiatischen Despotie oder dem neuen Hitler. Während Putins Propaganda diesen Krieg als Kampf gegen die amerikanische Hegemonie, die kapitalistische Dekadenz und ihre „faschistischen Handlanger“, Ukrainer, stilisiert, greifen die ukrainischen Medien sogar auf die Vorlagen aus der Popkultur wie die Verfilmung des Fantasy-Romans „Herr der Ringe“, indem die russischen Invasoren vielerorts als „orcs“ bezeichnet werden. Dieser offenen militärischen Konfrontation gingen zumindest zwei Jahrzehnte diverser symbolischer Kriege voraus.
Wobei ging es bei diesen symbolischen Kriegen?
Dubasevych: Es gab Konflikte zwischen den divergierenden Richtungen der Geschichtspolitik, Sprachpolitik und es kam auch zu religiöser Spaltung. Eine besondere Rolle spielt die Verarbeitung historischer Traumata: Während für Putins Russland die Annäherung der Ukraine an den Westen die uralten Einkreisungs- und Unterlegenheitsreflexe aktivierte, die auf die polnischen, französischen oder deutsche Invasionen zurückgingen, fühlen sich die Ukrainer durch die brutale Vorgehensweise Russlands in ihrer Vorstellung bestätigt, dass Russland schon immer ein Henker des ukrainischen Volkes war.
Könnten Sie die Traumamechanismen - reell oder imaginär oder beides zugleich - etwas ausführlicher beschreiben?
Dubasevych: Das Tragische ist, dass beide Gesellschaften nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Aufarbeitung ihrer Geschichte - des imperialen/antiimperialen und totalitären Erbes - kaum durchführen konnten. Entsprechend reagierten sie auf die tiefe gesellschaftliche Krise nach der Desintegration der Sowjetunion, dem Kollaps der staatlichen und sozialen Strukturen, der Ankunft des Turbokapitalismus in Form von Oligarchie, mit der Mobilisierung von historischen Opfer- bzw. Heldenmythen. Russland fühlte sich als Opfer des Westens, als dessen Agenten es die „unzuverlässigen“ und „egoistischen“ Ukrainer sieht, während die Ukrainer ihr Geschichtsnarrativ auf einer exklusiven Opferrolle gegenüber dem russischen Imperium oder der Sowjetunion aufbauten. Beide Geschichtsauffassungen setzten den Akzent ausschließlich auf den negativen Episoden der langen gemeinsamen Geschichte.
Wie schätzen Sie die Chancen auf ein baldiges Kriegsende ein?
Dubasevych: Kann sein, dass es in den nächsten Wochen auf einer der beiden Seiten zu einem militärischen Kollaps kommt und die kriegerischen Handlungen ein Ende finden. Aber wie wir bereits am Beispiel des gescheiterten Minsk-Abkommens sehen konnten, ein Waffenstillstand ist nur eine Verschnaufpause. Da das Misstrauen zwischen beiden Seiten mit jedem Kriegstag und gegenseitiger Zerstörung wächst, ist jeder Kompromiss für beide Parteien gleich einer Selbstvernichtung. Beide träumen daher vom Sieg.
Was muss geschehen, um Frieden zu erreichen?
Dubasevych: Um einen Frieden zu erreichen, bedarf es eines asymmetrischen Handelns und großer humanistischer Ressourcen. Heute setzt man aber nur auf die militärischen, gelegentlich diplomatische Mittel. Und da trotz aller Beteuerungen auf beiden Seiten diese tiefe Überzeugung von der eigenen Sache fehlt und stattdessen die erwähnten „gewählten“ Traumata dominieren, dreht sich die Gewaltspirale immer weiter. Ohne die Bereitschaft, sich den eigenen Fehlern - der Verantwortung für die eigene Geschichte und der Verflechtung mit dem Anderen - zu stellen, wird es den Frieden nicht geben.
Quelle: epd