Stimmen zum Tod des Greifswalder Altbischofs Horst Gienke Frommer Volkskirchler auf dünnem Eis

Von Tilman Baier

Altbischof Horst Gienke mit seinem Urenkel im Dezember 2020

Matthias Gienke

07.03.2021 · Greifswald. Horst Gienke, Altbischof der Pommerschen Evangelischen Kirche, ist tot. Als fromm und volksnah war er in den Gemeinden beliebt, kritisch gesehen wurde er von denen, die auf die Distanz ihrer Kirche zur Staatsmacht achteten. Beides spiegeln auch die bischöflichen Nachrufe wieder. Dazu haben wir auch zwei Wegbegleiter aus der Pastorenschaft befragt.

Horst Gienke, von 1972 bis 1990 Bischof der Evangelischen Kirche Greifswald, ist am 26. Februar in Demmin gestorben, zwei Monate vor seinem 91. Geburtstag. Wie kaum ein anderer leitender evangelischer Geistlicher während der DDR-Zeit steht er für den Versuch, auch unter DDR-Verhältnissen eine Volkskirche aufrecht zu erhalten – durch ein unbefangenes Zugehen auf die Staatsmacht.

 

Wie seine 1996 im Rostocker Hinstorff-Verlag erschienene Autobiografie „Dome, Dörfer, Dornenwege. Lebensbericht eines Altbischofs“ zeigt, war er auch im Ruhestand, nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft, davon überzeugt, dass dieser „Greifswalder Weg“ des Kirche-Seins in der DDR der richtige zum Wohl von Gemeinden und Gesellschaft gewesen sei.

 

Vor allem in den Landgemeinden seiner Kirche, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur zwei Drittel ihres Gebietes, sondern später auch den Namen Pommern eingebüßt hatte, wurde sein väterlich-volksnahes Auftreten als plattdeutsch sprechender Bischof mit Standesbewusstsein geschätzt. Dazu kam, dass er in der dirigistischen Mangelwirtschaft Sonderkonditionen beim Staat für die Sanierung von Kirchen und Pfarrhäusern erreichte – auch mithilfe der guten Beziehungen zur Nordelbischen Partnerkirche und nach Skandinavien.

 

Besonderes Aufsehen erregte die Sanierung des Greifswalder Doms und dessen Innenumbau mit einem liturgischen Zentrum nach dem Vorbild des Lübecker Doms. Zu dessen Einweihung am 11. Juni 1989, die von Protesten begleitet wurde, hatte Gienke – gegen Absprachen mit dem DDR-Kirchenbund und ohne Rücksprache mit Kirchenleitung und Synode – Erich Honecker als Staatsratsvorsitzenden eingeladen.

 

Im September 1989 forderte schließlich der Greifswalder Pfarrkonvent die Kirchenleitung schriftlich auf, dem Bischof das Misstrauen auszusprechen, was diese aber nach heftigen Kontroversen mehrheitlich ablehnte. Die Landessynode jedoch sprach ihm im November 1989 knapp mit 32 zu 30 Stimmen das Misstrauen im Blick auf seine Amtsführung aus, woraufhin Gienke sein Amt niederlegte und von seiner Kirchenleitung in den Ruhestand versetzt wurde.

 

Obwohl Horst Gienke als Bischof für den „Greifswalder Weg“ stand, so hat er doch die meiste Zeit seines Lebens vor dem Ruhestand in Mecklenburg verbracht und ist dort geprägt worden. 1930 in Schwerin geboren, studierte er in Rostock Theologie. Nach einer Zeit als Gemeindepastor in Blankenhagen bei Ribnitz und in Rostock leitete er von 1964 bis 1972 das Predigerseminar der mecklenburgischen Landeskirche. 1970 war er einer der Kandidaten für die Wahl zum mecklenburgischen Landesbischof, die jedoch Heinrich Rathke gewann.

 

Seit dem 1. Januar 1972 Landessuperintendent des Kirchenkreises Schwerin, wählte ihn die Synode der Greifswalder Landeskirche bereits im März 1972 zum dortigen Bischof. Zudem war der stark von einem konservativen Luthertum Geprägte von 1973 bis 1976 und 1987 bis 1989 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche der Union (EKU) in der DDR, dem konfessionellen Pendent zur Vereinigten Lutherischen Kirche. Zudem engagierte er sich leitend in der Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft und war Präsident des 1. Bibelkongresses der DDR 1983 in Karl-Marx-Stadt. 1980 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Sektion Theologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald.

 

Staatsnähe aus Sendungsbewusstsein

 

Nach Gienkes Versetzung in den Ruhestand wurde bekannt, dass er vom Ministerium für Staatssicherheit seit 1972 als „IM Orion“ geführt worden war. Nach eigener Aussage hatte der Bischof bis 1989 insgesamt 37 vertrauliche Gespräche mit MfS-Offizieren geführt, in denen es um grundsätzliche Fragen nach politischen Entscheidungen sowie dem inneren und wirtschaftlichen Gefüge des Staates gegangen sei. Allerdings bestritt er, sich bewusst als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) zur Verfügung gestellt zu haben. Das genaue Ausmaß der Zusammenarbeit zwischen dem Bischof und der Staatssicherheit konnte jedoch nicht geklärt werden, da nach Angaben der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Gienkes Akte im Dezember 1989 vernichtet wurde.

 

In einer ersten Reaktion auf die Todesnachricht hat Nordkirchen-Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt das langjährige Wirken Gienkes im Dienste der Menschen und des Glaubens gewürdigt und den Angehörigen und „allen, die um Horst Gienke trauern“, kondoliert. Während seiner 17-jährigen Amtszeit als Bischof in Vorpommern sei Gienkes große Nähe zu den Kirchengemeinden von vielen geschätzt worden.

 

Von tiefer Frömmigkeit geprägt, habe er „35 Jahre den Verkündigungsdienst wahrgenommen, mit dem ihn seine Kirche beauftragt hatte. Dieses Dienstes von Altbischof Horst Gienke gedenken wir mit Respekt.“ Doch habe es auch Kritik an seinem Führungsstil und seiner staatsloyalen Haltung in der DDR gegeben. „Offensichtlich unterschätzte er, was sein Kontakt mit staatlichen Stellen und insbesondere dem Ministerium für Staatssicherheit bedeutete“, so Kühnbaum-Schmidt.

 

Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern, äußerste sich „dankbar, dass ich ihn noch persönlich kennenlernen durfte. Dabei habe ich die Zwiespältigkeit seiner Person deutlich empfunden: Ich habe ihn als frommen Menschen erlebt, dem Gebet und die Botschaft der Bibel Leitschnur fürs Leben gewesen sind. Er hatte fürsorglich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche im Blick und setzte sich für seine Kirchengemeinden ein. Den Menschen vor Ort war er auch dadurch, dass er Platt sprach, sehr nahe. Um insbesondere für Bauaufgaben etwas zu erreichen, pflegte er enge Kontakte zu staatlichen Stellen und sprach auch regelmäßig mit der Staatssicherheit, ohne sich der fatalen Konsequenzen bewusst zu sein.“

 

Bei den Stimmen, die wir kurzfristig von zwei pommerschen Weggefährten einholen konnten, wird dieser Aspekt zwar auch nicht ausgeklammert, tritt jedoch zurück: So würdigt Friedrich Harder, seit 1973 Landespfarrer für Gemeindedienst in der Greifswalder Kirche und von 1983 an als Propst in Stralsund, ein guter Kenner Gienkes, in seinem Nachruf den Altbischof als jemanden, der die Weite und Offenheit seines Vorgängers Krummacher „gern aufnahm, zu der auch ein angstfreier souveräner Umgang mit denen gehörte, die die Macht im Staat hatten“. Gienke habe einen ausgesprochen volksmissionarischen Ansatz gehabt und versucht, in allen Bereichen auf die Menschen zuzugehen. Er habe sich auch nicht gescheut, bei seinen Visitationen in den 15 Kirchenkreisen seiner Kirche auch die jeweiligen Kreissekretäre der SED aufzusuchen. „Oft kam er von solchen Gesprächen zurück und sagte, diese seien eigentlich keine Atheisten, sie hätten nur Probleme mit der Kirche und es läge zuerst an uns, daran etwas zu verändern und zu verbessern und auch wiedergutzumachen“, so Harder.

 

Mit seinem Gottvertrauen und mit seiner auch väterlichen Art habe Gienke sehr viele Menschen erreicht. Als Bischof habe er Anerkennung und Achtung „weit über unsere Kirche hinaus“ gefunden. „Wir nehmen dankbar von einem unserer Bischöfe Abschied, der seine Kirche geliebt und gerne und mit Leidenschaft und mit letztem Einsatz seinen Dienst in ihr verrichtet hat“, so Harder.

 

„Auch Kritik hat ihn nur noch bestätigt“

 

Gienke habe in seiner Dienstzeit Ende der 70er-Jahre erlebt, wie sich der DDR-Staat dazu durchrang, Kirche nicht nur als „Überbleibsel des Bürgertums“ und als „Opium fürs Volk“ zu sehen. Kirche im Sozialismus, die es nun auch offiziell geben sollte, habe Gienke zu füllen versucht als „Kirche für alle“. Das Vertrauen auf die Verheißungen Gottes hätten Gienke „verwegen“ gemacht – „und seine Erfahrungen im Umgang mit den verschiedenen Menschen und auch mit Atheisten machten ihn immer gewisser auf dem eigenen Weg“. Zudem war er „so sehr von sich überzeugt, dass auch Kritik ihn nur noch bestätigte. Er war beseelt von seinem Anliegen und auch von seiner eigenen Frömmigkeit, dass er es nicht merkte oder sogar in Kauf nahm, vom DDR-Staat benutzt und ausgenutzt zu werden.“ Allerdings, so betont Friedrich Harder, habe „die Aufarbeitung der Vergangenheit in unserer Kirche und auch im Vorprüfungsausschuss der EKD (hat) eindeutig festgestellt, dass Bischof Gienke nicht die Seiten gewechselt hat.“ Gienke selbst habe treuen Weggefährten versichert, er sei stets ein freier Mann und nur seinem Gewissen und seinem Ordinationsgelübde verpflichtet gewesen.

 

„Es wäre allerdings wertvoll für unsere Kirche gewesen“, so der Altpropst, „wenn er die Kraft gehabt hätte, öffentlich sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen, dass er es nicht zu verhindern vermocht hat, dass die DDR ihn und auch unsere Pommersche Kirche benutzt hat. Das hat er nicht getan.“ Seine Meinung dazu sei gewesen: „Jeder Staat hat die Kirche auf seine Weise benutzt. Und es geschieht auch heute“, zitiert Harder aus einem Gespräch mit dem Altbischof.

 

Auf einen besonderen Aspekt von Gienkes Wirken weist Pastor i. R. Sagewasser hin: Als gebürtigem Mecklenburger habe ihm die Verkündigung in plattdeutscher Sprache am Herzen gelegen. So hatte Gienke 1988 in Zusammenarbeit mit der „Evangelischen Haupt-Bibelgesellschaft“ zu einem wissenschaftlichen Symposium „400 Jahre Niederdeutsche Bibeltradition“ nach Zingst eingeladen. Dort wurde mit Vorträgen zur Barther Bibel, zur niederdeutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart und zu ihrem Gebrauch in Kirche und Gesellschaft des 400. Jahrestages der Drucklegung der Barther Bibel gedacht. Hier wie auch zu anderen Gelegenheiten predigte Gienke plattdeutsch, so auch in einem Gedenkgottesdienst zum 40. Todestag des Arztes und plattdeutschen Dichters Dr. Bernhard Trittelvitz. Im ebenfalls plattdeutschen Gottesdienst zum 200. Geburtstag von Fritz Reuter in Altentreptow im Jahr 2010 predigte Gienke über Psalm 23. „Am Ende seiner Predigt standen“, so schließen Sagewassers Erinnerungen, „diese tröstenden Worte“:

 

„Wat hebben wi dat gaud. Öwer de Tiden hinweg sünd wi as Christenlüd ünnerwägens tau dat grote Ziel, ünnerwägens ok mit Fritz Reuter. Mit em seihn wi, wo düster dat männigmal üm uns un in uns is. Mit em söken wi, woans ’n lütt bäten Licht in’t Läben kümmt. Un mit em weiten wi: Uns Herrgott hett ’n gauden Wech prat för jedenein. Un wi sülln dissen Wech nich gahn? De Psalmbäder weit, wat hei tau daun hett: Un ik, ik bliew min Läben lang to Hus bi unsen Herrgott, Dag för Dag. So ward allens gaud. Uns Herr Jesus Christus bliew bi uns hüt un alle Dagg. Amen.“

 

Worte, die noch einmal ein Schlaglicht werfen auf die tiefe Frömmigkeit des Altbischofs und seine Volksnähe, die aber auch erzählen von einer Weltsicht, die in ihrer Schlichtheit gefährlich werden kann, wenn sie die Probleme einer Gesellschaft aus den Augen verliert.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 10/2021