Psychoanalytiker Maaz über Seelenzustände der Menschen in Ost und West "Der ostdeutsche Erfolgreiche muss immer noch weniger Schlips tragen"

17.09.2014 · Berlin/Halle. Seit 25 Jahren beobachtet der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz aus Halle die Seelenzustände der Menschen in Ost und West. Über weiter bestehende Unterschiede, neue Gemeinsamkeiten, Kränkungen und fehlende differenzierte Auseinandersetzungen mit dem Ostler sprach der 71-jährige Vorsitzende des Choriner Instituts für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention mit dem Evangelischen Pressedienst.

Was unterscheidet den Patienten Ost von dem Patienten West in der psychoanalytischen Praxis?

Der Unterschied ist am Anfang ziemlich deutlich. Der Ostdeutsche ist schneller dabei, dass Leidvolle, die Schwierigkeiten, das Ängstliche zu benennen. Er stellt sich eher als Hilfsbedürftiger vor. Der Westdeutsche hat am Anfang noch viel mehr Fassade. Dem fällt es schwerer, Hilfe anzunehmen oder überhaupt einzugestehen, dass er vielleicht etwas nicht so kann. Da spürt man die unterschiedliche Sozialisation. Im Osten waren die Menschen gar nicht schlecht beraten, wenn sie gesagt haben, "das kann ich nicht, das weiß ich nicht". Im Westen musste man immer so tun, als hätte man alles im Griff und sei bestens drauf. Wenn das aber geklärt ist, dann sehe ich bei den eigentlichen menschlichen Problemen keinen Unterschied mehr.  

Haben sich die Ostdeutschen in den vergangenen 25 Jahren verändert?

Ja, schon. Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich sehr ausdifferenziert. Am Anfang war es das relativ einfache Schema "Wende-Verlierer, Wende-Gewinner". Das hat sehr viel damit zu tun, wie man in der neuen Gesellschaft Fuß gefasst hat. Wichtig sind dabei vor allem Arbeit und Geltung. Diejenigen, die keine Chance mehr hatten, weil sie entweder überhaupt keine Arbeit mehr bekommen haben oder die in ihrer beruflichen Erfahrung und Lebensleistung abgewertet wurden und das auch nicht mehr ausgleichen konnten, haben Kränkung und Zurücksetzung erlebt. Die empfanden sich durchaus als Wendeverlierer. Das betrifft vor allem die Generation, die zu Mauerfall und Wiedervereinigung um die 50 Jahre war.

Die Jüngeren hatte bessere Chancen, aber da hat sich auch etwas ausdifferenziert: Nämlich die, die wie selbstverständlich im neuen Deutschland angekommen und durch Ausbildung und Beruf weiter erfolgreich sind. Erstaunlich ist, dass sich diese häufig schon gar nicht mehr an ihre Kindheit in der DDR erinnern. Dann gibt es die anderen, die es nicht geschafft haben. Die mit ihrer ostdeutschen Sozialisation Schwierigkeiten haben, denen es schwerer fällt, sich zu behaupten, sich zu verkaufen, in eine Leitungsposition zu kommen.

Man muss sehen, dass die Sozialisation, wie Menschen behandelt und Kinder erzogen werden, eigentlich grundsätzlich unterschiedlich zwischen Ost und West war. In der DDR zielte die Erziehung auf Anpassung: Es ging um das Kollektiv und um ja nicht so viel Individuelles, es galten Vorsicht und Zurückhaltung. Im Westen ging es dagegen um Individualisierung. Da zählte der Stärke-Kult, das sich Behaupten, sich gut verkaufen können. Das sind zwei sehr entgegengesetzte Tendenzen.

Warum sind viele Ostdeutsche auf der Strecke geblieben?

Das hat sehr viel mit Familien, beruflichen Chancen aber auch mit Regionen zu tun. Da gibt es auf der einen Seite Leuchttürme wie die Region Halle-Leipzig, Jena oder Dresden. Dem stehen Gebiete wie die Uckermark oder Mecklenburg entgegen, die personell verarmen. Dort haben auch die jüngeren Leute keine angemessenen Entwicklungschancen gefunden. Da gibt es Frust und Enttäuschungen, die sich dann auch noch radikalisieren. Deswegen kann sich beispielsweise dort die NPD so ausbreiten.   

Warum bezeichnen sich heute 16-Jährige selbst noch als Ossis und reden von den anderen als Wessis, wo sie doch bereits in das gemeinsame Land hineingeboren wurden?

Auch das hat sehr viel mit den Eltern zu tun, wie diese in der neuen Gesellschaft angekommen sind. Es gibt viele, die zwar froh und zufrieden sind, dass die DDR überwunden wurde, die aber auch an den westlichen Fehlentwicklungen leiden, beispielsweise an den sozialen Verwerfungen. Ich glaube, dass da der Blick vieler Ostdeutscher auf das Land sehr viel kritischer ist, weil man ursprünglich "von außen" kommt. Gerade auch weil die illusionären Hoffnungen von '89 nicht aufgegangen sind.

Das zeigt sich auch an der sogenannten dritten Generation Ost, der heute 30- bis 40-Jährigen. Die hatten ihre frühe Sozialisation, Kindergarten und Schule in der DDR und kamen mit der Wende ins Erwachsenenleben. Berufsausbildung und Arbeit fanden bereits im Westen statt. Trotzdem erleben sie noch sehr stark die Unterschiede. Mir imponiert es, dass diese Menschen ihren kritischen Blick auf zwei Systeme wachhalten. Der Osten braucht aber auch wie 1968 im Westen eine kritische Auseinandersetzung mit der Eltern-Generation, wo dann auch die Frage gestellt wird "welche Rolle habt ihr eigentlich in dem totalitären SED-System gespielt?" Da hoffe ich, dass dort noch etwas Kreatives entsteht.

Sind sie überrascht, dass nach 25 Jahren die Fremdheit zwischen den beiden Deutschen noch überwiegt?

Das überrascht mich eigentlich nicht. Es hat keine differenzierte Auseinandersetzung gegeben, welche Vor- und Nachteile die Menschen aus dem Osten und welche Vor- und Nachteile die Menschen aus dem Westen durch die jeweiligen sozialökonomischen Entwicklungen von DDR und Bundesrepublik hatten. Es gab eigentlich nur die sehr billige primitive Einteilung - im Westen war alles besser und im Osten alles schlechter. Bis hin zu der sehr kränkenden westlichen Einschätzung: das politische System im Osten war schlecht, die Wirtschaft war schlecht - also können auch die Menschen nur schlecht sein. Dabei war häufig genau das Gegenteil der Fall. Weil die Verhältnisse so schlecht waren, hat man gelernt mit Mangel zu Recht zu kommen, ist näher zusammengerückt und hat sich gegenseitig geholfen. Das waren Entwicklungen, die gerade günstige Effekte hatten.

Wo sind denn Ost und West immer noch sehr unterschiedlich?

Wenn man den Sozialstatus berücksichtigt, dürften die Unterschiede zwischen Ost und West nicht so groß sein. Wem das Geld fehlt, der ist ähnlich frustriert oder verstimmt. Bei den Erfolgreicheren zählt nach meiner Beobachtung im Westen immer noch mehr das Äußerliche. Profan gesagt: Der ostdeutsche Erfolgreiche muss immer noch weniger Schlips tragen als sein westdeutsches Pendant. Es gibt einen deutlichen Unterschied bei den Etiketten.

Gibt es überhaupt noch ein Interesse an dem jeweils anderen?

Nicht mehr so wie am Anfang. Die Neugierde hat sich gelegt. Was ich positiv erlebe, ist dort wo Ost- und Westdeutsche wirklich real zusammenkommen, bei der Arbeit, in der Familie oder als Eheleute, dort entwickelt sich sehr viel mehr als nur Verständnis.

Quelle: epd