#notjustsad: Twitter hat ein Ventil geöffnet Tausende diskutieren im Internet über Depression
Von Nora Frerichmann
21.11.2014 · Berlin. Ein einziger Post löst eine regelrechte Lawine aus: Auf Twitter ist eine Diskussion über Depressionen im Gange. Sie soll ein Weckruf sein, damit die Krankheit endlich ernst genommen wird. Depression ist nicht einfach Traurigkeit, sagen Ärzte.
Sie hat "Wolken im Kopf. Gewitter in der Seele". Er hat jeden Tag Angst, dass andere merken, wie schlecht es ihm wirklich geht. Im sozialen Netzwerk Twitter schreiben Tausende User unter dem Hashtag "notjustsad" (Nicht bloß traurig) über ihr Leben mit Depressionen - und haben damit eine stürmische Diskussion ausgelöst. Begonnen hatte alles mit einem Outing von Jana Seelig, die sich auf Twitter zu ihrer Depression bekannt hat. Sie lebt bereits seit ihrem 16. Lebensjahr mit der Krankheit.
Aus Frust über das Unverständnis ihren Depressionen gegenüber nutzte sie das soziale Netzwerk. "Ich motze auf Twitter sehr viel und natürlich kommen da gewisse Reaktionen zurück. Aber dass es so viel ist, damit habe ich wirklich nicht gerechnet", sagte die Bloggerin im ZDF. Innerhalb weniger Stunden lösten ihre zahlreichen Posts keinen Shitstorm, sondern einen regelrechten Ermunterungssturm aus. Das Hashtag schießt in dieser Woche in die Top fünf der Twitter-Trends. Die Berlinerin scheint einen Nerv getroffen zu haben.
"Man darf Depressionen nicht einfach mit Traurigkeit oder schlechter Stimmung verwechseln", sagt Iris Hauth, Chefärztin am Alexianer St. Joseph-Krankenhaus in Berlin. Jeder fünfte Deutsche erkrankt in seinem Leben an einer Depression. Vier bis fünf Millionen Menschen bräuchten momentan eine Behandlung, nur ein Bruchteil werde jedoch optimal betreut, erklärt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Die Krankheit führe zu depressiven Stimmungen: Sie vermindert den eigenen Antrieb, führt zum Verlust von Interessen, Freude und schlimmstenfalls zu Selbstmordgedanken.
In der Gesellschaft sind Depressionen weitgehend ein Tabu. "Das lässt sich geschichtlich begründen", erklärt die Psychiaterin Hauth. "Bis vor 200 Jahren wurden psychisch Kranke nicht behandelt, sondern einfach weggesperrt."
Diese Tabuisierung wirkt nach. Dagegen wollen die Twitter-Nutzer etwas tun. Es ist laut Seelig geradezu ein "Auskotzen" über das Unverständnis einer Gesellschaft. Die sei nur auf Ergebnisse fixiert, sagen Twitter-User. "Wir haben vor lauter Leistung und Wachstum verlernt uns selbst zu lieben!", schreibt einer. Gegen den Vorwurf der Faulheit und gegen Stigmatisierung schreiben viele über ihre Gefühle, aber auch über die Vorurteile in ihrem Umfeld.
Oft sprechen Erkrankte nicht gern über ihre Krankheit, und doch explodiert #notjustsad. "Im Internet ist alles anonymer, man wird nicht direkt von Freunden, Kollegen oder Familie in eine Schublade gesteckt" erklärt Hauth, warum plötzlich so viele Menschen über ihre Gefühle schreiben. Der Austausch im Internet könne entlastend und tröstend für Depressive sein. Dies ersetze freilich keine Therapie.
Schockmomente wie der Tod von Nationaltorwart Robert Enke vor fünf Jahren oder des US-Schauspielers Robin Williams, der sich im August erhängt hatte, haben die Ernsthaftigkeit der Krankheit stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Seelig hofft, dass die Resonanz auf #notjustsad nun wie ein Weckruf wirkt: Die Krankheit müsse auch im Alltag endlich ernstgenommen werden, sagt die Bloggerin.
Quelle: epd