Blog - 12. bis 20. September 2015Partnerkirchenkonsultation der Nordkirche - Zu Besuch in Pommern und Breklum

Vom 12. bis 20. September sind Delegierte aus allen Partnerkirchen der Nordkirche zu einer Konsultation unter dem Motto „Gemeinsam den Weg der Gerechtigkeit gehen“ eingeladen. Nach der Begrüßung in Hamburg sind die Gäste vier Tage lang in Gruppen in den Kirchenkreisen unterwegs. Fünf internationale Gäste besuchen Pommern: Kirchenamtsleiterin Oxana Jakowlewa aus Kasachstan, Eva-Liisa Luhamets aus Estland, Pastor Samuel Logan Ratnaraj aus Indien, Pastor Keith Lumsdon aus England und Pastor Henry Paul Roa von den Philippinen. Ökumenepastor Matthias Tuve, Pressesprecher Sebastian Kühl und Flüchtlingsbeauftragte Christine Deutscher berichten:


Tag 9 | 20.09.2015Festgottesdienst zum Abschluss

Es ist der letzte Tag der Konsultation. Wir sitzen im Hamburger Michel beim Abschlussgottesdienst und lauschen der Bachkantate „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“. Besser hätte die Musik nicht ausgesucht werden können. Denn in den vergangenen Tagen haben wir begriffen, dass dieses Lied überall gesungen wird: in Brasilien, in Indien, auf den Philippinen. „Wenn ich die Augen schließe, dann denke ich, ich bin bei der Greifswalder Bachwoche“, sage ich zu Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit, der neben mir sitzt. „Das habe ich auch gerade gedacht“, sagt er lächelnd.

Das Evangelium wird gelesen, die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Und dann bekommt Lazarus ein Gesicht, eine Stimme, die tief ins Herz trifft. Am Mikrofon steht Isen Asanovski. Er ist der Sprecher seiner Gruppe von vierzig Roma, die den Hamburger Michel besetzt haben. Ihnen droht die Abschiebung, und sie wissen nicht mehr, wohin.

„Montenegro ist sicher für Montenegro-Leute. Kosovo ist sicher für Kosovo-Leute. Aber nirgends ist es sicher für uns Roma!“ Asanovski hält Zeitungsausschnitte hoch: „Wir sind hier her gekommen, weil wir keine andere Wahl haben. Da ist ein junger Mann, der umgebracht wurde, nur weil er Roma ist. Und hier - ein kleines Kind, 10 Jahre alt, umgebracht, nur weil er Roma ist. Und hier - dieser Roma ist geschlagen, nur weil er Roma ist. Und hier ist meine eigene Zeitung, meine eigene Geschichte. Mein eigenes 6-jähriges Kind, umgebracht. Und keine Polizei, kein Gericht, gar nichts. - Wir haben gesagt, wir gehen jetzt in das Haus Gottes. Gott soll jetzt unser Schicksal bestimmen. Der Priester (gemeint ist Hauptpastor Alexander Röder) und seine Mitarbeiter haben uns viel geholfen. Der Priester hat uns in seine Arme genommen. Wir danken dafür, dass er vieles in seine Hand genommen hat mit der Auslanderbehörde und den politischen Behörden. Wir haben uns entschieden. Sie sollen uns vom Gotteshaus abschieben, wenn sie uns abschieben. Gott soll für uns unser Schicksal bestimmen.“ (Stellungnahme des Kirchengemeinderates zur Gruppe der Roma im Michel)

Bischof Zachariah Kahuthu aus Kenia beginnt seine Predigt mit der Frage eines europäischen Pastors, der in Kenia predigen sollte über den reichen Mann und den armen Lazarus. „Wie soll ich darüber predigen? Ich bin doch reich!“ fragte der Pastor den Bischof um Rat. „Sollte ich nicht lieber einen anderen Predigttext nehmen?“ Nein, wir können keinen anderen Text nehmen. Wir können nicht nur Bachkantaten hören, so schön sie sind. Wir müssen auch Isen Asanovski hören. Seine letzten Worte, das Finale seiner Rede: „Wir leiden auf der ganzen Welt, und keiner fragt sich, was mit uns passiert. Ich bitte euch noch einmal im Namen Gottes, ihr sollt uns helfen.“

Später sitzt er beim Abschiedsempfang bei uns. Die Romagruppe ist eingeladen worden, mit uns zu essen. Ein kleines Zeichen, dass nicht jeder reiche Mann den Lazarus unbeachtet vor der Tür liegen lässt. Margrit Semmler, Kirchenleitungsmitglied, sagt: „Wir stehen erst am Anfang der Frage, wie wir miteinander den Weg der Gerechtigkeit gehen können. Aber wir haben uns auf den Weg gemacht.“ Ich gehe noch einmal nach draußen. Auf den Kirchhof läuft mir eins der vielen Romakinder entgegen und lässt sich nicht abweisen. Es will fotografiert werden. Die Mutter hat nichts dagegen. So soll sein Bild am Ende dieser Geschichte stehen. Es streckt mir seine offene Hand entgegen, es sieht mich an. „Gemeinsam den Weg Gerechtigkeit gehen“ war das Motto dieser Konsultation, die nun zu Ende gegangen ist. Aber ihr Thema bleibt.

Matthias Tuve


Tag 8 | 19.09.2015Abschlusspapier und Klimapilgern


Der letzten Morgenandacht im Zelt folgt die letzte Bibelarbeit in Breklum. Danach kommen alle noch einmal im Plenum zusammen, um ein Abschlusspapier zu diskutieren. Und diskutiert wird heftig über das vorgeschlagene Papier. Manchen ist es zu weich und sie wünschen sich schärfere Formulierungen. Andere vermissen die Ergebnisse der Workshops. Beim Thema Klimagerechtigkeit soll die Verantwortung der nördlichen Hemisphäre deutlicher benannt werden. Maarten Diepenbrock aus den Niederlanden schlägt vor, die Forderung, Menschenrechte „überall in der Welt“ zu respektieren, umzuformulieren in die Forderung, Menschenrechte „überall in unseren Kirchen“ zu respektieren. Eine Gruppe, zu der ich auch gehöre, schlägt anstelle der allgemeinen Formulierung „Frauenrechte“ vor, die Themen Geschlechtergerechtigkeit, Ordination von Frauen und häusliche Gewalt explizit zu benennen. Dagegen erhebt sich Widerspruch mit dem Argument, dass allen klar sei, was „Frauenrechte“ sind und deshalb die Ordination von Frauen nicht einzeln benannt werden müsste. Weitere Vorschläge wurden geäußert, um den Weg der Gerechtigkeit, den wir in Breklum miteinander gegangen sind und den wir als Kirche weitergehen, genauer zu beschreiben. Schließlich wird die Zeit knapp. Alle Vorschläge sollen in der Steuerungsgruppe bedacht werden und das Papier verändert und ergänzt werden. Am Sonntag soll es auf der Pressekonferenz bekannt gegeben werden. Ich bin gespannt! (Pressemeldung: Delegierte der Partnerkirchenkonsultation beschließen Kommuniqué)

Christine Deutscher

Am Nachmittag werden die Zelte in Breklum abgebrochen. Wir fahren zum Klimapilgerweg. In Flensburg vor einer Woche begann er und führt über 1.470 km nach Paris. Warum nach Paris? Dort soll auf der UN-Klimakonferenz im Dezember 2015 ein neues internationales Klimaabkommen beschlossen werden. Der Pilgerweg aber will im Vorfeld auf die globale Dimension des Klimawandels aufmerksam machen. Mit zwei großen Bussen werden wir aus Breklum kommend in Alt-Mühlendorf abgesetzt und begleiten die Pilgergruppe 3 km zu Fuß bis zur Arche Warder.

Besonders bewegt mich das Gespräch mit Hermann Mertens und seiner Tochter Heike Mertens. Sie kann immer nur ganz kurze Strecken gehen, weil sie an Parkinson erkrankt ist. Der Tremor ist nicht zu übersehen, während ich mit ihr spreche. „Meine Tochter ist jetzt aus dem Haus und unterrichtet in einer Schule in Ruanda. Und da habe ich gedacht, ich will jetzt etwas Schönes machen, weil ich nun Zeit dafür habe.“ Heike Mertens hat durch Zufall von dem Pilgerweg erfahren und beschlossen mitzumachen. Während die Pilger laufen, bewältigt sie die parallel die Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder es findet sich auch mal jemand, der sie fährt. Ihr Ziel ist es, von Flensburg bis Wuppertal, also sechs Wochen lang, dabei zu sein. Eine Woche hat sie schon geschafft, und ihr Hund geht den Weg mit. Ich bewundere ihren Mut und ihre Lebensfreude. Sie hat das Motto des Pilgerweges ernst genommen: („Geht doch!“  - geniale Verbindung von Indikativ und Imperativ durch gerade mal zwei Worte). Und was alles geht, wenn man es wirklich will, denke ich. Einige Pilger haben sich sogar den gesamten Weg vorgenommen.

Vater Hermann Mertens aber fällt aus allen Wolken, als er hört, dass ich aus Greifswald komme. „Ich war Baubeauftragter der Nordelbischen Kirche und habe das Dorfkirchensanierungsprogramm in der Landeskirche Greifswald begleitet, wie sie damals hieß. Die ersten Fahrten in die DDR waren abenteuerlich. Einmal haben sie mich vier Stunden lang an der Grenze in Unterhosen stehen lassen.“ So hat jede Zeit ihre Herausforderungen. Und auch damals ging was!

In einer kurzen Andacht versammeln sich Pilger und ökumenische Gäste im Stall, weil es draußen gerade aus allen Rohren gießt. Und diesmal singen wir „We are walking the climate justice“ – Wir gehen den Weg der Klimagerechtigkeit. Gut, dass wir diesen Abstecher gemacht haben. Und jetzt rollen die Busse weiter nach Hamburg. Morgen ist der letzte Tag.   

Matthias Tuve


Tag 7 | 18.09.2015Er hat mich gesalbt, den Armen das Evangelium zu bringen

Heute wird Bischof Dr. Alex Malasusa vom Direktor des Zentrums für Mission und Ökumene Dr. Klaus Schäfer interviewt. Schäfer ist sichtbar froh, dass der ehemals leitende tansanische Bischof kommen konnte. Das Thema lautet: Er hat mich gesalbt, den Armen das Evangelium zu bringen. Lukas 4,18. Der Beitrag der Kirche für eine gerechte Verteilung der Ressourcen.

 

Malasusa antwortet ruhig und unaufgeregt und trotzdem klar. Herausforderungen gibt es genug in seinem Land und seiner Kirche. „Wie soll die Kirche arm und reich zusammenbringen, dass sie sich miteinander freuen? In Tansania sind wir schockiert. Wir hatten die Philosophie des Ujamaa. Aber es hat sich geändert. Nur wenige haben genug. Der Graben zwischen reich und arm wird immer größer. Ich weiß, dass es auch Arme in Deutschland gibt, gemessen am deutschen Standard. Aber bei uns leben Menschen, die nur eine Mahlzeit am Tag haben und nicht wissen, wie sie ihren Kindern Schulbildung ermöglichen sollen.“ Viele große Companies investieren in Tansania. Besonders die Chinesen sieht er als Freunde. Da zuckt Klaus Schäfer doch zusammen und rät zur Vorsicht. Aber Malasusa lässt sich nicht beirren: „Ja, sie sind unsere Freunde und wir überlegen, ob wir unter ihnen lutherische Mission starten“ Die steigende Umweltverschmutzung ist in Tansania ein großes Problem. Deshalb hat die Kirche einen großen Aufforstungsplan entwickelt. „Unsere Leute haben nur Bäume fällen gelernt. Sie müssen jetzt lernen, neue Bäume zu pflanzen.“

 

Dann wird Malasusa nach dem Aberglauben in seinem Land gefragt. Das ist eine furchtbare Geschichte. Menschen mit Albinismus - also weißer Haut, hervorgerufen durch angeborene Veränderungen in der Biosynthese der Melanine – werden getötet, ihre Körperteile für Hexerei genutzt. „Die Menschen brauchen Bildung, damit das nicht mehr geschieht,“ sagt Malasusa. „Und für Menschen mit Albinismus können wir inzwischen geschützte Bereiche anbieten, wo sie sicher sind.“

 

Auch über Fundamentalismus und Nationalismus wird Malasusa befragt. Doch bevor Schäfer die nächste Frage stellen kann, geht Malasusa plötzlich in die Offensive und fragt selbst: „Und was tut ihr dagegen? Ihr seid wirklich sehr gut in Statements. Alle Achtung! Aber wie ist Eure Praxis?“ Dabei steht er immer noch unter dem Eindruck eines Buchenwaldbesuchs, bei dem seine Gruppe von Neonazis attackiert wurde. Die wollten offenbar nicht zulassen, dass ein afrikanischer Bischof die dunklen Seiten der deutschen Geschichte anschaut.

 

Nachdem Dr. Julian Culp theoretische Erkenntnisse zur Situation der Armen vorgetragen hat und die Frage erörtert hat, was das Ziel für die Armen in einer dann gerechten Welt sein sollte, gibt es eine rege Plenumsdebatte, die schließlich beendet werden muss, bevor alle zu Wort gekommen sind.

 

Matthias Tuve

Situation der Flüchtlinge

Brisant und aktuell war der Workshop, der sich mit der weltweiten Situation der Flüchtlinge beschäftigte. Bischof Zacharias Kahuthu aus Kenya berichtete von riesigen Flüchtlingslagern für hunderttausende Flüchtlinge aus Somalia, organisiert und koordiniert vom Lutherischen Weltbund und anderen Hilfsorganisationen. Die Situation von Flüchtlingen in Europa wird diskutiert, und Pastorin Kate Boardman aus England spricht die Beschämung aus, die viele ihrer Landsleute gegenüber der Politik der Abschottung ihres Landes empfinden. Durch Spendenaktionen für Flüchtlinge kam es in ihrer englischen Gemeinde zur Zusammenarbeit mit einer Moschee, und Kate berichtet von der Überraschung ihrer Gemeindemitglieder, als sie von der regelmäßigen Spendenfreudigkeit der islamischen Gemeinde erfahren. Arbeit für Flüchtlinge als Chance, andere Religionen besser kennenzulernen. Beim Thema der deutschen Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge scheiden sich die Geister: sie wird im Ausland einerseits bewundernd wahrgenommen, andererseits mit dem Gefühl der Angst vor Überfremdung. Was hat der Workshop gebracht?

  1. Die Vergewisserung, dass wir als Kirche nicht nichts tun können!
  2. Dass unser Glauben auf einer Ansammlung von Fluchtgeschichten basiert.
  3. Dass wir als Kirche Begegnungen zwischen Menschen ermöglichen sollten.
  4. Dass wir Gott in unserem Nächsten erkennen sollen.

Impressionen vom interkulturellen Abend vor dem Nachtgebet

Nachtgebet im Zelt 

Am Abend war unsere Stralsunder Gruppe mit der Gestaltung des letzten Nachtgebets der Konferenz an der Reihe. Im großen Andachtszelt waren das Rauschen der Bäume und das Prasseln des Regens eine wohltuende Hintergrundmusik. Die Andacht ließ uns als pommersche Gruppe noch einmal die Gemeinschaft spüren, die wir vom ersten Moment in Stralsund an gefühlt hatten. Und breitete sich mit Kerzen und Liedern aus auf die große Zeltgemeinschaft. Ein ungeplanter Witz und Keith als alter Mann am Stock, der sich vor dem Weg der Gerechtigkeit nicht scheut, sorgten für große Heiterkeit. Plötzliche Betroffenheit füllte das Zelt, als Oxana, Logan und Eva-Liisa mit einem Standbild und einem kurzen Satz Gewalt gegen Frauen als Widerspruch zum biblischen Gebot thematisierten. Zum Schluss sang die große Zeltgemeinschaft unser Stralsunder Lieblingslied „Together marching the way of justice“. Ich hätte noch lange weitersingen mögen...

Christine Deutscher


Tag 6 | 17.09.2015"Gerechtigkeit ist zuallererst Gottes Charakter"

Nach Morgenandacht, Frühstück und Bibelarbeit in Gruppen folgt das Plenum. “Lass das Recht fließen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie einen nie versiegenden Strom“ Amos 5,24. 

  • Gerechtigkeit aus theologischer Perspektive
  • Biblische Perspektiven auf menschliche und göttliche Gerechtigkeit

Prof. Dr. Christl Maier (Marburg) sagt einen Satz, der sich in mir festhakt: „Gerechtigkeit ist zuallererst Gottes Charakter.“ Und sie erinnert an Matthäus 20, die Geschichte von den Arbeitern im Weinberg, die zu unterschiedlichen Zeiten in die Arbeit eintreten – einige sogar erst eine Stunde vor Arbeitsende. „Das ist eine gute Geschichte über Gerechtigkeit,“ sagt sie. „Wer mehr arbeitet, länger arbeitet, die besseren Startbedingungen hat, einfach auch mehr Glück hat – der verdient mehr, sogar viel mehr – und die anderen bleiben zurück und kämpfen ums Überleben. Das ist die eine Auffassung von Gerechtigkeit. Nicht so im Gleichnis von Jesus. Alle bekommen für ihre Arbeit so viel, dass sie davon auch leben können. Das ist die andere Gerechtigkeit! Denn Gottes Gerechtigkeit ist rettende Gerechtigkeit!“

Bischof Dr. Alex Mkumbo (Tansania) stimmt zu: Es geht darum, wie wir die Mitglieder der Gesellschaft behandeln, die am verwundbarsten sind. Jedes Menschenleben muss wertgeschätzt werden, denn jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. In der Diskussion meldet sich als erste die pommersche Flüchtlingsbeauftragte zu Wort: „In Gesprächen im Rahmen meiner Arbeit höre ich von schrecklichen Gewalterfahrungen. Frauen, die aus Afrika geflüchtet sind, berichten darüber. Was tun Kirchen in Afrika gegen diese Gewalt?“

Eine große Frage, auf die es nur kleine und – bei diesem riesigen und so vielfältigen Kontinent – auch nur unterschiedliche Antworten geben kann. Mkumbo spricht über Traditionen und Gesetze, die teilweise noch kolonial geprägt sind. Er verweist auf die enorme Bedeutung von Bildung. Er denkt, dass neue Gesetze nötig sind, die ungute Traditionen verbieten. Und er erzählt davon, dass es im Herbst Kirchenwahlen in Tansania gibt: „Für alle Funktionen kandidieren auch Frauen. Wir haben inzwischen viele Pastorinnen.“ Eine davon, die erste und bisher einzige Pröpstin der Zentraldiözese der ELCT, Sarah Msengi, sitzt im Plenum und hört ihrem Bischof zu.

Kirche in der Minderheit

Am Nachmittag gibt es vier workshops. Einer trägt den schönen Titel: „In der Minderheit – Kirche im multikulturellem und säkularen Kontext". Eszter Kalit berichtet über die Situation der ungarischsprachigen Luthernischen Kirche in Rumänien. Als Herausforderungen benennt sie Migration (die Jugend geht weg), Bildung (ungarische Sprache und lutherischer Glaube für die nächste Generation), den schwierigen Umgang mit dem großen Bruder (86% der Rumänen sind rumänisch-orthodox, und nur 0,14% lutherisch)

Dass dann auch Bill Rauch von der Ev. Lutherischen Kirche in Amerika zum Thema Minderheiten referiert, verwundert zunächst. 75% der Bevölkerung ist protestantisch, die anderen katholisch. „Die Katholiken in Amerika verstehen uns zwar immer noch nicht. Aber wir arbeiten zusammen“, sagt Rauch unter dem Gelächter der Zuhörenden. Dann ist doch alles gut - was soll es da für Minderheitsprobleme geben? Rauch geht die Sache ganz anders an. Er richtet den Blick auf die Gesellschaft, und hier besonders auf die Minderheiten in der Gesellschaft. Er spricht über die 14% Afro-Amerikaner. Er sagt, dass Barack Obama ein guter Präsident ist, aber dass in den letzten sieben Jahren etwas geschehen ist, was  es noch nie gegeben hat in Amerikas Geschichte, nämlich dass der amtierende Präsident von seinen Gegnern gehasst wird. Und das hat auch etwas mit seiner Hautfarbe zu tun. Rauch spricht über den aktuellen Wahlkampf, und dass der Präsidentschaftskandidat Donald Trump alle illegalen „Latinos“ über die mexikanische Grenze nach Süden schicken will und die 1.800 km lange Grenze so ausbauen will, dass sie niemanden mehr durchlässt. In diesem Spannungsfeld hat die lutherische Kirche sich also in ihrem Einsatz für die Minderheiten zu bewähren.

Bischof Yuri Novgorodov aus Kasachstan sitzt neben mir, und wenn ich es richtig deute, dann macht er ein grimmiges Gesicht. „Die sind doch alle nicht in der Minderheit“, sagt er zu mir. „Unsere 2.500 lutherischen Christen sind in ganz kleinen Gemeinden über die ganze Länge von 4.500 km verstreut. Unsere zehn Pastoren und ich haben keine Zeit, um irgendwelche Statistiken zu erstellen. So viele Gespräche sind nötig, Kontakte, Begegnungen, auch mit staatlichen Stellen. Wie das alles schaffen mit so wenig Personal – das ist unsere Herausforderung. Neben mir sitzt Anton Tikhomirov aus St- Petersburg und sagt: „Ich sehe die Minderheitensituation als Chance. Es gibt viele Leute, die offen sind für den Glauben. Wie wir die erreichen – das ist unsere Aufgabe." Als wir uns hinterher zum Foto treffen, denke ich auf einmal – und sage es auch: Wer hätte vor 30 Jahren gedacht, dass es einmal solch ein Ostblock-Treffen geben könnte? Yuri Novgorodov zieht die Augenbrauen hoch. Und dann lacht er.

Matthias Tuve

Für eine Präsidentin des Lutherischen Weltbunds!


In einem anderen Workshop geht es um Geschlechtergerechtigkeit. Grundlage ist der Kern der biblischen Tradition, dass wir Menschen als Mann und Frau gleichermaßen im Ebenbild Gottes geschaffen sind. Gilt Gottes Freiheit für die Geschlechter auf unterschiedliche Art und Weise? Warum gibt es immer noch lutherische Kirchen, die Frauen nicht ins Pfarramt ordinieren? In Polen gilt die „Geschlechterideologie“, die z.B. über Stereotype aufklären will, als „Dämon des 21. Jahrhundert“, erklärt Pastor Slawomir Sikora aus Breslau. Und Theologin Dace Balode berichtet von der Spaltung der lettischen lutherischen Kirche: Frauen im Pfarramt arbeiten in der Auslandskirche, aber in Lettland selbst sind sie nicht anerkannt. Diskutiert wurden auch die Themen Gewalt gegen Frauen, Beschneidung und Homosexualität. Eine deutliche Forderung stand am Ende des Workshops: Der Lutherische Weltbund sollte mit gutem Beispiel vorangehen und eine Frau in das Präsidentenamt wählen!

Christine Deutscher



Tag 5 | 16.09.2005Wir wurden eins


Unsere gemeinsame Zeit in Pommern neigt sich dem Ende zu. Am Nachmittag fahren die Delegierten und drei Gastgeber nach Breklum. Der Abschied rückt also näher. Doch bevor es soweit ist, haben wir noch einen gemeinsamen Vormittag vor uns. Ein letztes Mal frühstücken wir in Stralsund, dann brechen wir nach Barth auf. In der Kapelle des Bibelzentrums St. Jürgen begrüßt uns nach unserer Morgenandacht Johannes Pilgrim. Der Leiter berichtet von der Geschichte des Bibelzentrums und führt uns, unterstützt von Pastor Jens D. Haverland, durch die Ausstellungen.

Ach ja! Der Gruppen-Beitrag für Breklum muss ja auch noch geprobt werden! Matthias Tuve nimmt als „Regisseur“ gewohnt souverän das Heft in die Hand und studiert im Handumdrehen ein Mini-Musical ein, bei dem Delegierte und Gastgeber singend und tanzend auf dem Weg der Gerechtigkeit sind.

Vor der Abreise werden wir im Seminarhaus verköstigt. Allen schmeckt es ausgezeichnet. Auch Keith Lumsdon, der seinen Teller schon fast leergegessen hat, als er nach der Art des Fischs fragt. „Von welchem Fisch redest du“, fragen wir ihn. Er meine den Fisch, den wir essen. Nun, antworten wir ihm, der Fisch, den du gegessen hast, heißt Hähnchenbrust.

Die Zeit drängt, Breklum wartet. Doch was nehmen wir in unseren Herzen von der Zeit in Pommern mit? „Das waren vielleicht die besten fünf Tage des Jahres“, meint Matthias Tuve. Christine Deutscher ist fasziniert von der Verständigung über alle Sprachgrenzen hinaus. „Mir wurde klar: Wir sind nicht allein“, sagt Alexander Müller.

Für den Abschied an den Autos bleiben nur wenige Minuten, in denen zahlreiche Umarmungen und Worte des Dankes ausgetauscht werden. Samuel Logan Ratnaraj bringt unsere Versuche, die zurückliegenden fünf Tage zusammenzufassen, in einem Satz auf den Punkt: „Wir wurden eins und gingen den Weg der Gerechtigkeit zusammen.“

In Breklum ist es schön! Eine ganze Reihe von zwei oder dreistöckigen Backsteinbauten, dazwischen neue, moderne Gästehäuser, ein großer Festsaal, viele Gruppenräume. Viel Natur, immer noch blühende Blumen, im Park eine riesige alte Blutbuche, die schützend ihr großes Blätterdach ausbreitet. Hervorragende Bedingungen für die Klausur, an der nun alle internationalen Gäste gemeinsam mit vielen Menschen aus der Nordkirche teilnehmen.

Alle sind gut angekommen. Der Direktor des Zentrums für Mission und Ökumene, Dr. Klaus Schäfer, begrüßt die aus der Ferne und die aus der Nähe. „Wir sind aus der Ferne gekommen!“ meint Christine. ´Vier Stunden hat die Fahrt von Barth nach Breklum gedauert.

Ein Grußwort kommt von Bischof Munib Younan aus Jerusalem. Als er beginnt, vom Leiden der Menschen im Nahen Osten zu sprechen, gewinnt seine ohnehin starke Stimme noch mehr Kraft. „Ich bin nicht nur Bischof. Ich bin auch Flüchtling!“ Und er dankt Deutschland. Er dankt Angela Merkel. „Ich weiß, dass auch hier in Deutschland nicht alles gut läuft. Aber wie ihr jetzt in der Flüchtlingsfrage reagiert, da seid ihr ein Vorbild für die ganze Welt!“

Als das Abendgebet angekündigt wird, geht ein Raunen durch den Saal. Es soll in einem kleinen runden Zelt stattfinden, und man soll sich warm anziehen, denn es sei ein wenig – nein, es sei sogar sehr frisch inzwischen draußen. Regen hat eingesetzt. Was wird das werden?

Es wird wunderschön. Die Luft ist frisch, aber nicht kalt. Alle sitzen dicht beieinander auf einfachen Bänken. Das Zelt ist bis zum letzten Platz gefüllt. Alle zehn „Expogruppen“ zeigen, wie kreativ sie mit dem Thema umgegangen sind. Wir dürfen mit unserem Sketch beginnen, denn es geht – wie die Sonne – bei der Vorstellung von Ost nach West. Als Keith mit dem Gehstock vor dem Altar erscheint und laut stöhnt „Ooooh, Pommern, ich bin total fertig!!!“, da geht das erste Gelächter durch das Zelt. Das Eis ist gebrochen. Genau das wollten wir erreichen. Hinterher sagt eine Kollegin zu mir: „Das muss ja toll bei Euch gewesen sein.“ Aber auch die anderen Gruppen beeindrucken. Das Vaterunser in vielen Sprachen und der Segen entlassen uns in die Nacht.

Sebastian Kühl (Teil 1) und Matthias Tuve (Teil 2)


Tag 4 | 15.09.2015Who are we? Team Stralsund!

Kann es wirklich sein, dass sich die meisten von uns erst vor kurzem erstmals begegnet sind? Es fühlt sich an, als wären wir seit langer Zeit gute Freunde. Wir sind in diesen wenigen Tagen zu einer Familie geworden.

Nach der Morgenandacht in St. Nikolai und dem gemeinsamen Frühstück besucht uns Pröpstin Helga Ruch im Gemeinschaftsraum unseres Hotels. Der Weg der Gerechtigkeit in der Propstei Stralsund ist das Thema, über das sie mit uns spricht. In unserer heutigen Zeit, mit ihrer Vielzahl an Möglichkeiten und den vielen Entscheidungen, die wir in unserer Freiheit täglich zu fällen haben, könne es eine Aufgabe der Kirche sein, dabei zu helfen, einen Weg durch diese Vielfältigkeit zu finden, so die Pröpstin. Einen Weg der Gerechtigkeit. Dabei habe unsere Kirche ein besonderes Alleinstellungsmerkmal: „Wir reden nicht einfach über Gerechtigkeit, sondern über Gottes Gerechtigkeit“, sagt Helga Ruch. „Und Gottes Gerechtigkeit zeigt sich dort, wo Menschen so angenommen werden, wie sie sind.“ Wir haben das Gefühl, dass wir gestern an Orten waren, in denen genau diese Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit Gottes, von der die Pröpstin spricht, wirksam und erfahrbar ist.

Die Kirche in Pommern sieht Helga Ruch an der Seite der Menschen und beschreibt die aus der Wendezeit geborene Tradition der Friedensgebete. Sie wurde und wird weitergeführt beim Ringen um den Erhalt der Volkswerft, beim Zeichen setzen gegen Krieg sowie für Offenheit und Mitmenschlichkeit. „Dank der Friedensgebete wissen die Menschen, wo sie hingehen können, wenn sie nicht weiterwissen, wenn sie ratlos sind und einen Ort brauchen für ihre Ängste und Sorgen“, erzählt uns Helga Ruch. Im Gespräch bittet Samuel Logan Ratnaraj die Pröpstin, dass die Kirche Einfluss auf die Politik nehmen möge, um zu verhindern, dass die westliche Welt weiterhin die sogenannten Entwicklungsländer ausbeutet und als Müllkippe missbraucht. Und Karen Bergesch interessiert sich besonders für Helga Ruchs Erfahrungen mit dem Thema Gender.

Marching in the light of God

Das Mittagessen im Tagestreff „Die Halle“ bekommt dieses Mal einen besonderen Abschluss. Als Dank für die fantastische Bewirtung singen wir mit dem Team des Tagestreffs das Lied „We are marching in the light of God“ (Wir wandeln im Lichte Gottes), das nicht nur in einer Tanz-Polonaise endet, sondern inzwischen schon fast so etwas wie die Erkennungsmelodie unserer „Exposure-Group“ ist. Und einen Erkennungsruf haben wir inzwischen auch schon: „Who are we? – Team Stralsund!“ (Wer sind wir? – Team Stralsund!)

Auf dem Weg nach Niepars halten wir kurz auf dem Gelände des Krankenhauses West und betrachten dort einige Gedenktafeln, die an die systematischen Krankenmorde der NS-Zeit erinnern.

In der Kirche Niepars treffen wir auf Menschen, die einige von uns schon vom Gottesdienst am Sonntag kennen. Daniel Debrow spielt wunderbar auf der Orgel und wir singen gemeinsam „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“, bevor wir in den Gemeindesaal zum Gemeindenachmittag für Ältere gehen. Es ist rappelvoll und duftet nach Kaffee und frischem Kuchen. „Es ist immer wunderbar, wenn mehr Menschen kommen, als gedacht und zusätzliche Stühle an die Tafel geholt werden müssen“, freut sich Pastor Stefan Busse. Einmal im Monat treffen sich zwischen zwölf und 15 Menschen aus der Gemeinde zum Gemeindenachmittag für Ältere. „Die Themen dieser Gemeindenachmittage entwickeln sich meistens aus den Gesprächen, aus dem, was die Menschen auf dem Herzen haben“, erzählt Stefan Busse.

Die Delegierten aus unserer Gruppe erzählen aus ihren Heimatländern und beantworten Fragen. Karen Bergesch stellt gleich zu Beginn klar: „Ich spreche nicht über Fußball!“ Stattdessen erzählt sie von der großen Gemeinde pommerscher Einwanderer, die es im Süden Brasiliens gibt. „80 Prozent des Kaffees, der in Deutschland getrunken wird, kommt von den Plantagen der pommernstämmigen Brasilianer. Heute trinken hier also Pommern Kaffee, der von Pommern angebaut wurde“, erzählt sie.

Das Lied „Lobe den Herren den mächtigen König der Ehren“ wird In seiner Heimatgemeinde in Indien viel gesungen und ist sehr beliebt, sagt Samuel Logan Ratnaraj. Und wie er hier in Niepars erfährt, entstand es in Stralsund. „Zuhause kann ich nun erzählen, dass ich dort war, wo dieses Lied herkommt.“

Zum Abendessen sind wir Jugendclub in Niepars eingeladen. Das Clubteam und die Jugendlichen bewirten uns reichlich. Doch nicht für den Magen haben sie etwas vorbereitet, sie haben auch eine Überraschung für die Augen. Auf Laken haben Sie die Umrisse der Heimatländer unserer Delegierten gemalt. Als Zeichen unseres Wegs der Gerechtigkeit dürfen wir sie ausleihen und morgen mit nach Breklum nehmen.

Volkher Judt erzählt vom Konzept des Clubs, von der Zusammenarbeit zwischen Kirche und Kommune und vor allem vom Kinderdorf. „Bei diesem Projekt lernen Kinder die Grundlagen und Zusammenhänge einer funktionierenden Zivilgesellschaft kennen“, so Volkher Judt. Sie nehmen spielerisch die Rollen von Erwachsenen ein, werden Bürgermeister, Vertreter von Ämtern und Behörden, Polizisten, Händler und vieles mehr. Rund 120 Teilnehmende sind beim Kinderdorf dabei, das seit sieben Jahren immer in den ersten zwei Wochen der Sommerferien stattfindet. Bevor wir gehen, sorgen wir im Jugendclub Niepars mit „We are marching in the light of God“ für Partystimmung. Das hat mich geflasht, meint Matthias Tuve später.

Ein Teil von mir bleibt in Stralsund

Auf dem Rückweg zur Unterkunft genehmigen wir uns einen Abstecher nach Altefähr, wo wir fasziniert auf das Panorama von Stralsund und einen wunderbaren Sonnenuntergang blicken. In der Abendrunde stellen wir kurz darauf fest, dass das Lied „Lobe den Herren den mächtigen König der Ehre“ überall in den Partnerkirchen beliebt ist.

Zwei Jugendliche, die wir in Niepars kennenlernten, schauen noch für eine halbe Stunde bei uns in Stralsund vorbei. Die beiden stellen den internationalen Gästen Fragen und staunen darüber, dass diese nicht einfach Jobs haben, sondern mit Herzblut dabei sind und das lieben, was sie tun. Es ist noch nicht Schlafenszeit, als die beiden wieder gehen, sodass wir noch Zeit für Rück- und Ausblicke haben. „So eine große Harmonie in einer Gruppe habe ich vorher so noch nie erlebt“, sagt Daniel Debrow. Und im Zusammenhang mit der morgigen Reise nach Breklum sagt Oxana Jakowlewa: „Ein Teil von mir bleibt hier in Stralsund.“

Als wir den Tag beschließen, ruft Keith noch einmal: „Who are we?“ Und alle antworten gemeinsam: „Team Stralsund!“

Sebastian Kühl


Tag 3 | 14.09.2015"Tankstelle für meine Seele"

Los geht es heute mit einer Andacht in der Kirche St. Nikolai. Danach frühstücken wir gemeinsam in einem Café am Alten Markt. Am dritten Tag ist unsere Gruppe inzwischen schon richtig gut eingespielt. Die Verständigung funktioniert bestens – vom Deutschen ins Englische ins Russische ins Englische ins Deutsche … und von vorn beziehungsweise in beliebiger anderer Reihenfolge. („I’m confused!“ – „Oh, i’m Keith!“) Bei fehlenden Vokabeln helfen wir uns gegenseitig aus. Manchmal hakt es aber dennoch. So wie am Frühstückstisch. Auf die Frage: „Ist das hier Zucker?“ bekommt Henry Paul Roa von Samuel Logan Ratnaraj die Antwort: „Ja!“, und trinkt dann tapfer seinen versalzenen Kaffee.

Im Kollegiensaal des Rathauses treffen wir Bischof Dr. Hans-Jürgen Abromeit. In einem faktenreichen Vortrag spricht er darüber, wie sich in Vorpommern Gerechtigkeitslücken erkennen und überwinden lassen. Danach entspinnt sich ein angeregtes Gespräch zwischen unserer Gruppe und dem Bischof über Themen wie Flüchtlingsarbeit, über den zunehmenden Abstand zwischen Arm und Reich oder über die Möglichkeiten der pommerschen Kirche, mehr Menschen für den Besuch der Gottesdienste zu gewinnen.

Auf dem Weg zum Mittagessen sprechen wir noch weiter über den Vortrag und widmen uns dabei unter anderem der berühmten psychologisch-philosophischen Auseinandersetzung, ob denn nun das Glas halbvoll oder halbleer ist. Eva-Liisa Luhamets meint: „Weder das eine, noch das andere. Das Glas ist wiederbefüllbar.“

So wie gestern genießen wir das gute Essen im Tagestreff „Die Halle“. Dabei kommen wir mit Gästen ins Gespräch, die dort regelmäßig einkehren und dafür teils weite Wege durch die Stadt in Kauf nehmen, weil sie Atmosphäre und Gemeinschaft schätzen. Ganz nebenbei entdecken wir immer mehr, wie wirksam die integrierende Kraft des Humors in unserer Gruppe ist. Wir spüren, wie uns das gemeinsame Lachen immer weiter zusammenschweißt.

Im Herzen eines Stadtteils

Das Nachbarschaftszentrum in der Auferstehungskirche Stralsund/Grünhufe ist unsere nächste Station. Im Schnelldurchlauf machen uns Thomas Nitz und Cornelia Gürgen mit den unzähligen Projekten und Angeboten bekannt. Die Auferstehungskirche ist wie ein Bienenstock voller Leben, sie ist Herz und Kraftquelle eines ganzen Stadtteils. Nach einem Rundgang durch die Kirche ist der integrative Freizeittreff Bleicheneck unser nächstes Ziel. Zwischenzeitlich bleibt aber noch etwas Zeit für einen Tee im Straßenkaffee, ein Telefonat oder den Aufstieg zum Aussichtsplateau der Marienkirche.

Am Abend dieses dritten Tages sitzen wir im Marktfuffzehn und haben längst das Gefühl, eine Familie zu sein. „Team Stralsund“, nennt es Keith. Und als wir auf den Tag zurückschauen, da erschließt er sich von seinen letzten Stunden her. Denn am meisten sprechen wir von unserem Besuch im Mehrgenerationenhaus Stralsund beim Jugendklub „Bleicheneck“.

"Tankstelle für meine Seele"

Im Freizeittreff sitzen wir vor und während des Abendessens gemeinsam mit den Besuchenden an einer großen Tafel. Kaum haben wir Platz genommen, werden die Delegierten mit Fragen bestürmt: Wo kommt ihr her? Wo liegt dieses Land? Wie viele Menschen leben dort? Die Atmosphäre ist herzlich, offen und wir fühlen uns wie inmitten einer großen Familie, deren Teil wir ganz selbstverständlich werden.

Leiterin Susanne Tessendorf erzählte uns davon, wie vor Jahrzehnten alles begann, wie sie nach Schätzen gesucht haben und wie sie gefunden wurden. Schätze? Sie meint damit behinderte junge Leute. Was bedeutet jung? Sie lacht. „Unser ältestes Mitglied ist 75 Jahre alt! Die jüngsten sind um die 20. Und viele sind schon seit vielen Jahren hier dabei.“ Und was bedeutet behindert? Ja, es sind geistig behinderte und auf mancherlei Weise gehandicapte Menschen. Aber wir sind überwältigt und tief berührt von der Ungezwungenheit und Herzlichkeit, mit der wir aufgenommen werden. Alle suchen sich einen Stuhl um den großen Tisch herum. Eine zweite Reihe muss aufgemacht werden. Dann erzählt uns ein junger Mann seine Lebensgeschichte. Wie seine Mutter starb. Seine Geschwister bekamen Adoptiveltern. Er hingegen musste wegen seiner Behinderung ins Heim. Während Christine ins Englische übersetzt, sucht er sorgsam seine nächsten Sätze zusammen. Und nimmt uns hinein in sein Leben von seinem Anfang bis in diesen Abend. In seine Freude, als er die Geschwister wieder findet. In seinen Stolz, wie er hier im Bleicheneck das Leben mitgestaltet. In seinen Lebensmut, der aus jeder Krise herausfindet, auch weil es diese Gemeinschaft hier gibt. Später nimmt ein ehrenamtlicher Helfer das Wort. Mit seiner Frau ist er fast jeden Tag hier, um zu helfen. „Ich arbeite gern ehrenamtlich für das Bleicheneck“, sagt er. „Aber eigentlich ist das gar keine Arbeit. Das hier ist eine Tankstelle für meine Seele. Ich bekomme viel mehr zurück, als ich an Zeit und Kraft investiere. Es macht mich glücklich, hier mitwirken zu können.“

Es wird noch ein langer Abend, an dem wir uns nach einer Andacht lange über den ereignisreichen Tag und die vielfältigen Erlebnisse austauschen.

Sebastian Kühl und Matthias Tuve


Tag 2 | 13.09.2015Gottesdienste in drei Gemeinden


Nach einer erholsamen Nacht im „Marktfuffzehn“ treffen sich Delegierte und pommersche Gastgeber ausgeruht beim Frühstück. Mit Spannung erwarten wir die Gottesdienste in drei Gemeinden des Kirchenkreises, in einer Stadt, in einer Kleinstadt und in einem Dorf. Dazu teilen wir unsere „Exposure-Group“ auf. In Vierergruppen beteiligen wir uns an der Gestaltung der Gottesdienste in der Lutherkirche in Stralsund, in Barth und in Pütte.

In Stralsund hält Keith Lumsdon die Predigt, die er mit zwei Witzen würzt, über die sogar gelacht wird, wie er hinterher stolz erzählt. „Und das, obwohl gar nicht Ostern ist“, sagt er augenzwinkernd. Von dem Brauch des Osterlachens hatte er während des Abendessens am gestrigen Tag gehört. Und Petra Breuer ergänzt: „Mit seinem trockenen englischen Humor hat er die Herzen der Gemeinde erobert.“ In seiner Predigt nimmt Keith Lumsdon die aktuelle Flüchtlingskrise auf und erinnert daran, dass auch Jesus ein Flüchtling war. Er hoffe, dass sich England dem Beispiel Deutschlands anschließen und weit mehr Hilfesuchende als bisher aufnehmen werde.

In Barth spricht Samuel Logan Ratnaraj ein Grußwort und Eva-Liisa Luhamets liest das Evangelium in estnischer Sprache. Die Predigt hält Ökumenepastor Matthias Tuve. Ursprünglich wollte Pastorin Solange Yumba wa Nkulu aus dem Kongo die Predigt halten, doch die Behörden verwehrten ihr die Ausreise. Da in Barth an diesem Sonntag das 4. Barther Kirchbaufest gefeiert wird, gibt es nach dem Gottesdienst noch mehr zu sehen als sonst. Eine Buchrestauratorin zeigt ihr traditionelles Handwerk ebenso wie ein Holzschnitzer. Zudem können wir einen Blick in die Kirchenbibliothek werfen. Eva-Liisa Luhamets wagt sich an den Kirchturmaufstieg, bestaunt das historische Uhrwerk und den Ausblick über die Stadt. Samuel Logan Ratnaraj kommt mit Gemeindegliedern ins Gespräch. Er erzählt, dass in seiner Abschlussklasse 1983 insgesamt 73 (!!!) Schüler gewesen sind. Kein Schreibfehler! 73! Und trotzdem nur ein einziger Lehrer! Darauf fragt eine Frau: „Was kann denn aus einem werden, wenn man mit über 70 Schülern in eine Schulklasse gehen muss?“ Logans Antwort: „Das sehen Sie doch! Ich sitze vor Ihnen!“ Beim anschließenden Gruppenfoto ist eine junge Frau aus dem Iran dabei, die nach ihrer Taufe im Frühjahr jetzt zur Barther Kirchengemeinde gehört.

Das Viererteam in Pütte beteiligt sich unter anderem mit der Lesung des Evangeliums auf Russisch an der Gottesdienstgestaltung. Bei vielen Gottesdienstbesuchern weckt der Klang der Russischen Sprache Erinnerungen und so kommt es im Anschluss zu vielen angeregten Gesprächen. „Die russische Lesung kam sehr gut an und wir wurden durch die Gemeinde ganz wunderbar empfangen“, ist Alexander Müller begeistert. Ein Rundgang führt die Delegation nicht nur durch die Winterkirche und das Pfarrhaus, sondern sogar bis zum Pütter See, wo die Mitglieder der „Exposure-Group“ Einzelheiten über die hiesige Jugendarbeit erfahren.

Mittagessen im Tagestreff „Die Halle“ und Stadtrundgang

Zum Mittagessen begegnen sich alle im Stralsunder Tagestreff „Die Halle“ wieder. Zu DDR-Zeiten war „Die Halle“ eine Einkaufsquelle in der Tribseer Vorstadt. Vor zehn Jahren hat das Kreisdiakonische Werk (KDW) Stralsund das Gebäude gemietet und darin „Die Halle“ mit einem Konzept zur Unterstützung Benachteiligter eingerichtet. „Wir bieten den Menschen einen Treffpunkt und günstiges warmes Essen und das ganzjährig täglich von 8 bis 14 Uhr“, erzählt Volkher Judt vom KDW. Ein Ziel sei es, das soziale Umfeld im Wohngebiet zu erhalten und zu stärken. So entstünden vielzählige menschliche Bindungen, die der Vereinsamung entgegenwirken, so Volker Judt. Doch nicht nur der Seele tut „Die Halle“ gut, auch dem Leib, wie sich die „Exposure-Group“ beim äußerst schmackhaften Mittagessen überzeugt. Die großen Portionen sorgen für Erstaunen bei den Delegierten, ebenso die kleinen Portionen, die in ihren Ausmaßen nicht von den großen zu unterscheiden sind.

Zurück im Hotel singen wir zusammen und tauschen uns über das in den drei Gemeinden und beim Mittag Erlebte aus. Danach geht es auf Erkundungstour durch die Altstadt. Dabei erfahren wir, dass die Stralsunder Bürgermeister einst über rote Teppiche ritten und Mönche sich mit Salbei die Zähne putzten. Im Anschluss an die eineinhalbstündige Stadtführung kommen wir nach einem ereignisreichen Tag während einer Andacht in St. Nikolai zur Ruhe. Samuel Logan Ratnaraj spricht über die Heilung am Teich Bethesda. Die Erfahrungen der Mitmenschen nachzuempfinden, könne uns auf den Weg der Gerechtigkeit führen, so der Pastor während der Andacht. Und nach dem gemeinsamen Abendessen endet der zweite Tag mit einer Gesprächsrunde im Gemeinschaftsraum unserer Unterkunft.

Sebastian Kühl


Tag 1 | 12.09.2015Auftakt in Hamburg


Da haben wir nun zwei Jahre lang die Partnerkirchenkonsultation vorbereitet. Soviel Zeit und Mühe, Liebe und Energie. Und dann das! Ausgerechnet am Tag und Ort ihrer Eröffnung wollen die Nazis in Hamburg aufmarschieren. Im Radio höre ich erleichtert – auf der A 20 heute Morgen während der Anfahrt auf Hamburg - dass auch das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz die Demo verboten hat.

Vor dem Hotel Baseler Hof sehen unsere internationalen Gäste dann verblüfft und irritiert und mit großen Fragezeichen in den Augen, wie ganze Kolonnen von Polizeiwagen mit Blaulicht Richtung Hauptbahnhof rollen. Als wir drei Stunden später Richtung Pommern fahren, kommen sogar mehrere Wasserwerfer vorbei. Offensichtlich gibt die rechte Szene trotz Verbot nicht auf. So bekommen die Delegierten aus den Partnerkirchen gleich in den ersten Stunden ein ungeschminktes Bild von unserer Wirklichkeit. Im Gartensaal des Hotels aber ist es friedlich, während Bischof Gothart Magaard alle offiziell begrüßt und Direktor Klaus Schäfer das Programm der Konsultation vorstellt. Wir singen, wir reden miteinander, viele alte Bekannte gilt es zu begrüßen, und am Ende gibt es ein Gruppenbild, bevor wir uns aufteilen. Für vier Tage sind jetzt zehn Gruppen in der Nordkirche unterwegs. Gemeinsam den Weg der Gerechtigkeit gehen – wie wird das in Pommern sein?

Oxana Jakowlewa hat ganz kleine Augen. Beim Abendessen in Stralsund kann ich es sehen. Mitternacht ist sie in Astana in Kasachstan aufgebrochen und seit 24 Stunden unterwegs. Gut, dass sie jetzt endlich angekommen ist. Und obwohl die Spannung, die Vorfreude auf die Zeit hier groß ist – jetzt wird erst mal geschlafen!

Matthias Tuve


© kirche-mv.de | Fotos: PEK (M. Tuve/S. Kühl) | Seite erstellt: D. Vogel