Studientag 2023

 

Im Spätherbst 2023 war es bereits das zehnte Mal, dass die AG zu ihrem Studientag einlud, der abermals auf viel Interesse stieß und rege besucht wurde. Diesmal fand er in der Kirche und im Gemeinderaum der Altlutherischen Gemeinde in Greifswald statt, die hier als Gastgeber fungierte und somit Anteil an der Gestaltung und am Erfolg des X. Studientages hatte. Sein übergreifendes Thema lautete: „Migrationen der Nachkriegszeit und ihre Bedeutung für die pommersche Kirchengeschichte“ (d. h. seit 1945)


Das Vortragsprogramm wurde von herzlichen Begrüßungsworten durch Pastor Hinrich Brandt von der gastgebenden Gemeinde eingeleitet, welcher auch den ersten Redebeitrag hielt. Er referierte über die Geschichte und Gegenwart der „Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche“, kurz SELK. Während der 1970er Jahre in Westdeutschland gebildet, hatte sich der SELK 1991 auch die evangelisch-altlutherische Kirche auf dem Gebiet der ehemaligen DDR angeschlossen. Dem Leitthema des Studientags folgend, gingen die Ausführungen des Referenten noch weiter in die Geschichte zurück und  waren dabei  auf Pommern sowie auf die Entwicklung der Greifswalder Gemeinde von 1945/46 fixiert. Eingangs  wurde auf die Gründung  der ersten altlutherischen Gemeinden verwiesen. Dies war eine Gegenreaktion auf die seit 1817 angestrebte und mit obrigkeitsstaatlichem Druck durchgesetzte evangelische Kirchen-UNION  im Königreich Preußen.  Die „Altlutheraner“ waren dann seit ca. 1830 besonders in den westlichen Regionen Hinterpommerns präsent.  Mit der historischen Zäsur von 1945, im Gefolge von Krieg, Flucht und Vertreibung, gab es auch diese demographischen und topographischen Konstanten nicht mehr. Analog dazu nahm im östlichen, deutsch geblieben Teil Vorpommerns die Zahl der Christen altlutherischer Konfession  enorm zu und es entstand die große Gemeinde in Greifswald. Deren Versammlungsstätten befanden sich schon damals in der Greifswalder Fleischervorstadt. Zuerst waren dies eine Pastorenwohnung in der  Gützkower Straße und ein bescheidenes Wohnhaus auf einem kleinen Grundstück in der Pestalozzistraße. Nunmehr befinden sich dort die 1992 – 1996 neu errichtete Kirche mit angeschlossenem  Gemeinderaum und das Pfarrhaus. Pastor Brandt stellte die St. Otto-von-Bamberg-Kirche mit ihrem modernen Interieur vor, das auch Erinnerungsstücke an die früheren altlutherischen Gemeinden birgt und über deren Standorte und Gotteshäuser in Hinterpommern informiert. Für viele Teilnehmer am Studientag war dieser Teil von Pastor Brandts Vortrag, der einer  geführten Kirchenbesichtigung  gleich kam, besonders interessant und eindrücklich.                            
Der zweite Beitrag dieses Studientages kam von Pastor Dr. Martin Holz (Schaprode). Bei ihm war im Programm folgendes  Thema  zu lesen: „Evakuierung, Flucht, Vertreibung und Neuanfang aus der Perspektive der evangelischen und katholischen Kirche 1943 – 1961 am Beispiel Rügens“.  Dazu entwarf der Referent  ein plastisches Bild von den extremen Verhältnissen und  enormen Herausforderungen, die das Leben der Menschen auf der Ostseeinsel kurz vor und nach Ende des 2. Weltkrieges bestimmt hatten. Deren Zahl war bis Spätsommer 1946 dramatisch angestiegen durch  Vertriebene und Flüchtlinge aus dem Osten.  Etliche der heimatlos Gewordenen sollten als „um- und Neusiedler“ auf Rügen kleine Bauernstellen aus den aufgeteilten Ländereien der Großgüter erhalten, deren Besitzer in der SBZ enteignet worden waren. Diese Neubauern, welche sich unter vielen Entbehrungen eine neue Existenz geschaffen hatten, waren dann 1959/60 ebenso von Zwangskollektivierungsmaßnahmen betroffen. Deutlich kam zur Sprache, wie schwer es für die aus ihren angestammten Milieus herausgerissenen Gläubigen war, als „neue“ Mitglieder in den „alten“ Gemeinden Rügens heimisch zu werden. Noch lange gab es hier ein wechselseitiges Gefühl latenter Fremdheit, auch bedingt durch manche als frustrierend empfundene Vorgänge im Alltags- und Gemeindeleben der Nachkriegsjahre.  Unterschiedliche Auffassungen und Traditionen gemeinschaftlicher Frömmigkeitspraxis sorgten dabei für manche Kontroversen. Ein großer Teil der auf Rügen gestrandeten Kriegsflüchtlingen und Heimatvertriebenen war römisch-katholischer Konfession. Um für sie, die aus dem Sudentenland, aus Schlesien, Danzig und Ostpreußen stammten, auf der Insel und in der Diaspora eine neue religiöse Heimstatt zu schaffen, war der Ausbau einer zuvor nur rudimentär vorhandenen kirchlich-administrativen Infrastruktur erforderlich. Dabei musste auch improvisiert werden, um etwa die regelmäßige Durchführung von Gottesdiensten an möglichst vielen Orten zu  gewährleisten. Für die rund Zehntausend  auf Rügen neuansässigen Katholiken gab es lediglich drei bescheiden dimensionierte Kirchenbauten. Sie waren 1911 - 1912 in Bergen, Garz und Sellin errichtet worden. Hinzu kam in Binz noch eine etwas jüngere kleine Kapelle. Wie sich trotz höchst prekärer Ausgangsbedingungen  religiöses Leben wieder entfaltete, zeigte sich eindrucksvoll am Pfingstmontag 1951, als hunderte Gläubige eine Wallfahrt nach Sellin zur Kirche Maria Meeresstern unternahmen. Diese „Insel-Wallfahrt“  ist inzwischen längst zu einer festen Instanz und Tradition geworden, bestand sie doch trotz mancher durch die DDR-Staatsobrigkeit erzwungener Beschränkungen weiter. Bei seinem Thema war klar, das Pastor Holz im Vortrag immer wieder auf Konflikte zwischen Staat und Kirche hinzuweisen hatte. Diese gab es auch auf Rügen zu Genüge gerade während Zeit der SBZ und frühen DDR in der stalinistischen und poststalinistischen Ära. Pastor Holz erinnerte beispielsweise an das Vorgehen von Sicherheits- und Justizbehörden gegen die „Jungen Gemeinden“ im Rahmen einer 1952 landesweit durchgeführten massiven Antikirchen-Kampagne.   
 Nach der Aussprache zu den zwei Vorträgen und einem Kaffeeimbiss folgte an dem Freitagnachmittag der dritte Beitrag mit Diözesanrat Janusz Staszczak aus Koszalin / Köslin als Referenten. „Kontinuität und Neuanfang. Evangelisches Leben im polnischen Pommern nach 1945“ war das Thema, zu dem sich Pastor Staszczak  äußerte. Dies geschah in weiten Passagen durch eine lebhafte Schilderung seiner  1997 begonnenen seelsorgerischen  Tätigkeit  und  den damit verbundenen komplexen Aufgaben im hinterpommerschen Koszalin.  Dazu gehört es auch, polnische und deutsche evangelische Christen in der Diaspora noch enger zusammenzuführen.  Es sind u. a. gemeinsam gehaltene Bibelstunden gewesen, welche vor mehr als drei Jahrzehnten die beiden Gemeinden einander näher gebracht hatten. Nach Flucht und Vertreibung 1945/46 hatte  es erst Ende der 60er Jahre der polnische Staat den in Hinterpommern verbliebenen Deutschen gestattet,  wieder eigene Gemeinden zu bilden.  Der sich daraufhin konstituierenden deutschen evangelischen Gemeinde in Koszalin  wurde 1999 die schöne backsteingotische Gertrudenkapelle übertragen, in deren Nachbarschaft dann auch bis 2008 ein modernes multifunktionales Gemeindezentrum entstand. Auch diese Gemeinde ist mittlerweile stark gealtert und numerisch geschrumpft. Von diesem demographischen Prozess  sind erwartungsgemäß die polnischen evangelischen Christengemeinschaften bisher kaum bzw. weit weniger betroffen, wie Pastor Staszczak mitteilte. Mit Humor erzählte dieser auch über ein weit verbreitetes Klischee, dass er schon  etliche Male in Polen wie in Deutschland zu hören bekam und  ihm bei seiner Amtstätigkeit ständig begegnet. Es handelt sich um die feste Meinung, jeder Christ polnischer Nationalität sei Mitglied der römisch-katholischen Kirche, während es genauso für viele seiner Landsleute nicht anders sein kann, als das ein deutscher Christ der evangelisch-lutherischen Konfession angehören muss.     
Dem X. Studientag folgte noch die Jahres-Mitgliederversammlung der AG für pommersche Kirchengeschichte, welche ebenso im Gemeinderaum der Altlutherischen Gemeinde stattfand.  Sie mit ihrem Patron Bischof Otto von Bamberg war es, die durch ihre am 3. November weit geöffneten Pforten auch die Möglichkeit zu einem interkonfessionellen Informations- und Gedankenaustausch bot, eine Chance, welche dann von Gastgebern und Gästen rege genutzt wurde.
Michael Lissok, Greifswald

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