Mecklenburgischer Propst vor Verabschiedung im Gespräch Dirk Sauermann: "Zeigen, was wir lieben und was uns trägt"

Propst Dirk Sauermann

Foto: privat

04.09.2023 · Parchim. Nach 17 Jahren scheidet der mecklenburgische Propst Dirk Sauermann (Parchim) auf eigenen Wunsch – vornehmlich aus Rücksicht auf seine Gesundheit – vor dem Ende des Berufungszeitraums aus dem pröpstlichen Leitungsamt. Zukünftig wird der Theologe Vertretungsdienste in der Propstei Wismar übernehmen. Im Vorfeld seiner Verabschiedung am 10. September um 14 Uhr in der St. Georgen-Kirche in Parchim sprachen wir mit dem 58-jährigen Theologen.

Propst Sauermann, Wenn Sie zurückblicken, was hatte Sie im Jahr 2006 gereizt das Amt eines Landessuperintendent (LSI) anzutreten?

 

Anderes als heute, wo solche Stellen öffentlich ausgeschrieben werden, wurde man in Mecklenburg gefragt. Bei der ersten Vorstellung wurde ich dann gefragt, ob ich mich der Wahl durch die mecklenburgische Kirchenleitung stelle. Meine Antwort war ein Ja. Es war eine echte Wahl und zugleich war dies verbunden mit der Zusage: „Wir trauen es Ihnen zu!“
 
Was dann alles auf mich zukommt, hatte ich natürlich nicht gewusst. Wenn doch, hätte ich vermutlich noch einige Nächte darüber geschlafen und es mir nochmal überlegt. Ich bin das Wagnis mit großer Offenheit aber eingegangen. Auch für unsere Familie war das ein neuer und herausfordernder Anfang.
 
In Ihrer Amtszeit gründeten die Landeskirchen in Nordelbien, Pommern und Mecklenburg im Jahr 2012 die Nordkirche.
Ist die neue Struktur hilfreich, um evangelische Kirche und christliches Leben in Mecklenburg zu gestalten?
Wo stehen wir heute im Blick auf das Zusammenkommen von Ost und West, Metropolen wie Hamburg und ländlichen Regionen wie das Parchimer Umland in einer Kirche?

 
Ich habe viele neue Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Da war eine große Neugierde aufeinander. Da war auch Erstaunen über die unterschiedlichen kirchlichen Kulturen und Prägungen. Plötzlich waren wir beieinander in 13 Kirchenkreisen und mussten schauen wie wir zusammenkommen in einer Nordkirche mit unterschiedlichem politischen und kirchlichen Ost/West Hintergrund.

 

Ganz praktisch gesehen: Die Wege wurden weiter, die Aufgaben mehr und die Frage, wie wir als Mecklenburger unsere Anliegen hörbar einbringen können, bewegte zunehmend. Es bedeutete, dass man sich aufmachen musste, um mitzureden, in Gremien präsent zu sein. Ich erlebte einen unglaublichen Zuwachs an Gremien, denn es galt ja von einer Landeskirche in einen Kirchenkreis einer eben erst neu gegründeten Kirche zu finden.
 
Ich habe die Bildung der Nordkirche für richtig gehalten und unterstützt. Mecklenburg profitiert davon in dieser Struktur zu sein, das meine ich nicht nur in einem materiellen Sinn.
 
So wäre zum Beispiel ein so umfangreiches Projekt wie das Biografienprojekt nicht ohne die Nordkirche möglich gewesen. Dennoch ist es auch schwierig, wenn wir uns an überbordender Bürokratie aufreiben und die Fülle von Gremien nicht mehr begrenzt bekommen. Und ich denke, wir brauchen wieder mehr das Aufeinander hören, wenn es darum geht, Schwerpunkte für die Zukunft auszumachen und dafür unsere Ressourcen einzusetzen.
 
Als Vorsitzender standen Sie seit 2018 dem Kirchenkreisrat vor. Die PfarrGemeindeHaus-Planung und der Stellenplan müssen immer wieder der Realität von kleiner werdenden Kirchengemeinden und engeren finanziellen Spielräumen angepasst werden. Kritiker sagen, das Geistliche bleibe bei all den Prozessen auf der Strecke. Was entgegnen Sie?
 
Im Prozess „Stadt, Land, Kirche - Zukunft in Mecklenburg“, begonnen 2014 und jetzt erneut aufgenommen, haben wir mit der Pfarr- und Gemeindehausplanung und dem solidarischen Stellenplan zwei wichtige Instrumente geschaffen, mit den vorhandenen Mitteln den Rahmen so zu verändern, dass  flächendeckend kirchliche Arbeit erhalten bleibt. Wir mussten und wir müssen bildlich gesprochen unser Haus so gestalten, dass wir es auch unterhalten können.
 
An manchen Stellen wurde es zu groß, woanders eher zu klein. Das bedeutete, in manchen Kirchenregionen konnten Stellen zugunsten von Berufsgruppen geschaffen werden, an anderen mussten wir kürzen, jedoch immer in dem Rahmen unserer Gemeinschaft der Dienste.
 
Wir sind hier in erheblichen Lernprozessen und da gehen Menschen eben unterschiedlich mit. So ist es z.B. sinnvoll, sich an Vorstellungen und Erwartungen zu orientieren, die das Haupt- und Ehrenamt nicht überfordern. Nicht alle müssen überall das gleiche Gemeindeprogramm fahren, sondern entsprechend vorhandener Kräfte und geistlicher Schwerpunktsetzung zu agieren, das ergibt ein buntes, sich ergänzendes Bild profilierter Gemeindearbeit in der Region.

 

Es gibt gute Beispiele für eine regional ausgerichtete Gemeindearbeit. Auf diesem Weg  der Kooperation, Bündelung der Kräfte und  stärkeren Besinnung auf die geistlichen Aufgaben sollten wir weitergehen. Das ist mit Abschieden verbunden, auch von Gebäuden und immer mit der Frage, was kann sich daraus Neues ergeben, wofür werden wir auch frei und entlastet, wenn wir entsprechend vorhandener Kräfte kirchliche Arbeit gestalten.
 
Stichwort ländlicher Raum: Die Kirchengemeinderäte, die Pastorenschaft und die Mitarbeitenden müssen größer werdende Gebiete betreuen und verwalten. Von Überforderung ist die Rede, auch weil Stellen vakant sind, Vertretungsdienste an der Substanz zehren. Was wurde und wird getan? Wie kann es gelingen, das Evangelium von der Liebe Gottes unter die Menschen zubringen und Kontakt zu halten?
 
Ich denke es geht darum, dass wir entsprechend vorhandener Kräfte arbeiten. Das bedeutet ganz konkret, vor Ort die Aufgaben zu überprüfen und realistische Ziele zu formulieren.
 
Dabei kann man dann auch sehen, wovon es wirklich sinnvoll ist, sich zu trennen und Abschied zu nehmen. Nur, man muss sich dem eben stellen. Das allein ist oft schwierig, bedarf des Blickes von außen und der Unterstützung bspw. durch Gemeindeberatung und guter Kommunikation in den Konventen. Hier muss auch der Kirchenkreis weiterhin unterstützend tätig sein.

 

Ja, und der Kirchenkreis tut ja mit seinen Diensten und Werken, und aus dem Zentrum Kirchlicher Dienste heraus, sehr viel, um Menschen in Kirchengemeinden zu befähigen, zu unterstützen und zu fördern, christliche Gemeinschaft und Bindung daran zu stärken. Wieviele Menschen haben beispielsweise in Lektorenkursen und im Zuge von Kirchenpädagogik gelernt, mit anderen Menschen Glauben und Glaubenserfahrungen weiterzugeben.
 
Aktuell wird öfter vom Bedeutungsverlust der Kirchen gesprochen und dies nicht allein angesichts schwindender Mitgliederzahlen. Wie sehen Sie dies? Und könnten Christen nicht dennoch viel selbstbewusster sein und läuft nicht viel mehr an kirchlichem Leben vor Ort als in der Öffentlichkeit vermutet wird?
 
Ich teile diese Rede vom Bedeutungsverlust nicht und spreche eher von einem Glaubwürdigkeitsverlust. Dort, wo Kirche in ihren vielfältigen Arbeitsfeldern wahr– und ernstgenommen wird, zeigt sich, dass ihr Dienst sehr geschätzt wird. Denken Sie nur an die Diakonie, an die vielen Kasualien, die Telefonseelsorge, die evangelischen Schulen… Da geschieht sehr viel bedeutsame und unverzichtbare Arbeit.
 
Jedoch wird leider vieles von dem, was gut und unverzichtbar ist in dunkle Schatten gestellt, wenn in der Kirche – oder sollte ich besser sagen – in den Kirchen, Dinge geschehen, die nicht von ihrem Auftrag gedeckt sind. Ich denke an die Missbrauchsdebatte, verschleppte und verzögerte Aufarbeitung... Das stellt Glaubwürdigkeit der Kirche(n) insgesamt in Frage, die dann nur sehr mühsam zurückgewonnen werden kann.
 
Sie haben sich stark für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit unserer Kirche gemacht. Das Biografienprojekt und Tagungen zum Thema Staat und Kirche in der DDR sind zwei Beispiele. Was bewog Sie persönlich und wo stehen wir bei der Aufarbeitung?

Mit dem Biografienprojekt geht es um den Einblick in Leben, Überzeugung und erlittenes Unrecht von Menschen, die in Mecklenburg unter der Sowjetherrschaft und der SED-Diktatur verhaftet, ausgegrenzt, diskriminiert, mit Schweigeverbot belegt oder gar ermordet worden sind.
 
Damit ist das Anliegen verbunden, Geschichte mit Geschichten von Menschen aufzuarbeiten, und einen weitergehenden Prozess der Erinnerungskultur zu etablieren. Neue Sichtweisen auf die zum Teil verschwiegene, verklärte und damit oft genug unterdrückte Lebenswirklichkeit sollen ermöglicht werden.
 
Wo Verfolgung war und Schweigen – da sollen Respekt und Gespräch entstehen. Für das Gespräch und die Wahrnehmung von Unrecht ist es nie zu spät!
 
Es geht also um erzählte Geschichte, die wir aus der Perspektive von jenen wahrnehmen, die sich auch als Christen aktiv gegen Unrecht und für Freiheit und demokratische Rechte eingesetzt haben. Und es geht darum, diese Geschichte in die Gegenwart zu übersetzen, sie zu betrachten, zu besprechen und der nachfolgenden Generation zugänglich zu machen, Brücken zu bauen.  Da muss noch viel mehr passieren.
 
Hoffnungsvoll stimmen mich Anfragen wie jüngst aus dem Gymnasium Lübz, als ich zwei Unterrichtseinheiten zu DDR-Widerstandsgeschichte gestalten und auch verdeutlichen konnte, dass eine offene demokratische Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit ist, wie eben auch gegenwärtige Entwicklungen zeigen.
 
Dafür habe auch ich mich eingesetzt als junger Mensch in der DDR, beim Aufbau der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, der Mitarbeit bei der Untergrundpresse und später in verschiedenen Kontexten unserer Kirche.
 
Für mich ist dabei ein Vers aus der Bergpredigt Jesu leitend: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Matthäus 5,6
 
Ich hoffe, dass der Hunger und Durst nach Gerechtigkeit uns eint, dass die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit Kräfte weckt, so wie in der Zeit, als ich selbst als Jugendlicher im Pfarrhaus Kittendorf ein und aus ging mit dem Aufnäher am Parka „Schwerter zu Pflugscharen“.
 
Kirche und Glauben in die Öffentlichkeit zu bringen, war u.a. ein weiteres Anliegen von Ihnen. Beispiele sind das Reformationsfest des Kirchenkreises Mecklenburg „Frei wie der Wind“ in Wismar 2017 mit mehr als 3000 Gästen oder das Martin-Luther-King-Musical 2023, welches Mitsänger und Zuschauer gleichermaßen begeisterte. Dennoch wird es schwerer kirchliche Themen in die breite Öffentlichkeit zu bringen. Wie sollte Kirche darauf reagieren?
 
Das waren wirklich sehr schöne größere Projekte, die wir im Team mit viel Freude und Energie auf den Weg gebracht haben. Sicher wird es das auch in Zukunft geben, das ist allerdings nur die eine Seite. Die Frage, wie kann die Bindung von Menschen an ihre Kirche gestärkt werden, sollte auch auf anderen Ebenen als denen von Großprojekten gestellt und beantwortet werden.
 
Den Kontakt in den Gemeinden untereinander zu fördern, die Bildung christlicher Gemeinschaft zu stärken, Menschen, die sich bürgerschaftlich und demokratisch engagieren als Partner zu sehen, das ist wichtig und unterstützenswert durch den Kirchenkreis. Und ich denke, wir müssen unsere eigene Bereitschaft, zu erzählen und zu berichten, was unser christliches Engagement motiviert, noch mehr sichtbar werden lassen.
 
Wenn Sie persönlich auf ihre leitende Tätigkeit zurückblicken: Was war eine der schönsten und eine der schwersten Dinge, die Sie in den vergangenen Jahren verantworten durften bzw. mussten? Und was wünschen Sie dem Kirchenkreis Mecklenburg mit seinen Kirchengemeinden?

In diesem Amt, zunächst als LSI und dann als Propst, habe ich sehr viel erlebt, unglaublich viele Erfahrungen gesammelt und dazugelernt, meinen Glauben immer wieder hinterfragt und auf dem Prüfstein erfahren, Stärkung, Halt und innere Entwicklung darin gespürt.
 
Die Diskrepanz zwischen dem, was unser Glaube als Hoffnungspotential in sich trägt und manchen resignativen Haltungen in Kirchengemeinden, das hat mich oft umgetrieben.
 
Wir brauchen mehr Gespräch miteinander, wo wir uns in Trauer trennen müssen von kirchlichen Formaten, die einmal getragen haben und es nun nicht mehr tun. Und wir brauchen das Bitten und Erzählen von dem, was wir erhoffen und vielleicht schon an Neuem sehen, wo etwas wächst und wo uns auch der Mut stärkt, etwas auszuprobieren, zu erproben.
 
Die Gestaltung von Transformationsprozessen bedarf des Mutes der Kinder Gottes!  Ja, es gibt von so viel erfreulichen Begegnungen und Dingen zu berichten, die wir in der Propstei und im Kirchenkreis auf den Weg gebracht haben.
 
Wenn in Kirchengemeinden Leute Lust hatten, etwas Neues auszuprobieren und auch zu experimentieren wie zum Beispiel in Hagenow mit dem Garten für Menschen mit Migrationshintergrund, die Kreuzwege in Brunow-Muchow oder auch die Blaue Stunde als ein Seelsorgeprojekt in einer Parchimer Schule, dann sind hier kleine, liebevoll und mit Herzblut gestaltete Projekte entstanden.
 
Besonders freut mich und meine Frau Katrin Schulz, dass in diesem Jahr das zwanzigjährige Bestehen der evangelischen Schule in Hagenow gefeiert wird. An deren Gründung haben wir gemeinsam mit anderen federführend mitgewirkt.
 
Schwer war die Zeit mit Corona und den beinahe täglichen Beratungen, was wir tun können, um kirchliches Leben im Rahmen von Schutz, Fürsorge und Nächstenliebe zu unterstützen.
 
Sehr schöne Erinnerungen habe ich daran, als das Nordkirchenschiff in Wismar einlief. Das war 2017 und es war wie ein kleiner Kirchentag. Das fand eine gute öffentliche Resonanz.  Größere Projekte, wo wir uns an anderen Orten als Kirche öffentlich zeigen und mit verschiedenen Angeboten ausstrahlen, zeigen, was wir lieben und was uns trägt. Wo wir das Gespräch und die Begegnung mit anderen Menschen nicht scheuen, da fällt die Freude ins Herz.
 
Gern denke ich an die jährlichen Begegnungen mit der bayrischen Partnerkirche, abwechselnd in Bayern und Mecklenburg. Davon gingen wichtige Impulse aus und es wuchsen freundschaftliche Beziehungen. Sehr viel Herzblut floss, wie gesagt, in das sogenannte Biografienprojekt.  
 
Dem Kirchenkreis Mecklenburg mit seinen 202 Kirchengemeinden wünsche ich den Mut der Kinder Gottes und die Kraft, die nicht aus uns selber kommt, um die vielen Herausforderungen anzunehmen und die Veränderungen gestalten zu können.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

 

Der gebürtige Berliner Dirk Sauermann hatte nach einer Berufsausbildung mit Abitur zum Agrotechniker zunächst als Bausoldat gedient.
 
Von 1986 bis 1994 studierte er in Rostock und Berlin Evangelische Theologie. Anschließend absolvierte er das Vikariat in Herzfeld (Kreis Ludwigslust-Parchim). Danach war er zehn Jahre Gemeindepastor in Hagenow (Kreis Ludwigslust-Parchim).
 
Im August 2006 wurde er Landessuperintendent des damaligen mecklenburgischen Kirchenkreises Parchim in der damaligen Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. Seit Gründung der Nordkirche (Pfingsten 2012) ist Dirk Sauermann einer von vier Pröpsten im Kirchenkreis Mecklenburg. Zwischendurch wurde er in sein Amt wiedergewählt und 2018 zum Vorsitzenden des Kirchenkreisrates gewählt.

Quelle: kirche-mv.de (Interview: C. Meyer)