Eine Gruppe um den Theologen Hinrich Kuessner arbeitet die Wendezeit auf ’89 in Greifswald: Erinnerungen gesucht

Von Sybille Marx

24.08.2014 · Greifswald.

Dünn wie Briefmarken sehen sie aus: die Papiersiegel, mit denen der Diakon Hinrich Kuessner und andere im Dezember 1989 die Aktenschränke der Stasi- Kreisstelle in der Stadt Greifswald verklebten. Der 71-Jährige lacht: „Diese Dinger waren eigentlich völlig nutzlos“, sagt er. Und doch, Kuessner und andere Mutige schafften es, das Stasi-Büro in der Domstraße 7 ab dem 4. Dezember für zwölf Tage zu besetzen und so zu verhindern, dass in den Monaten nach dem Mauerfall Papiere verbrannt oder abtransportiert, Spuren des SED-Überwachsungssystems heimlich beseitigt würden.

Wie das gelang – Kuessner, damals Leiter der Odebrecht-Stiftung in Greifswald – könnte viel darüber erzählen und ist sicher, dass auch Andere viel zu erzählen haben über die friedliche Revolution vor 25 Jahren. Zusammen mit Pastor i. R. Arnd Noack und weiteren Greifswaldern hat er deshalb eine Internetseite aufgebaut, die dazu aufruft, Erinnerungen zu teilen. „Wir wollen wissen, wie andere diese Zeit erlebt haben“, erklärt Kuessner. Außerdem plant die Gruppe eine Tagung mit Podiumsdebatten am 4. Dezember in der Domstraße 7 und will Zeitzeugen in Schulen schicken – das alles als Projekt unter dem Dach des „Bürgerhafens“, einer Ehrenamtlichen-Organisation beim Pommerschen Diakonieverein Greifswald.

„Die Erinnerung wach zu halten, sind wir der Gesellschaft schuldig“, findet Hinrich Kuessner, der nach der Wende als SPD-Mann Sozialminister des Landes MV wurde. Das Wissen über die DDR sinke mit jedem Jahr, viele Eltern redeten mit ihren Kindern kaum noch über diese Zeit. „Und so selbstverständlich ist es ja nicht, dass eine Diktatur nicht wiederkommt.“ Immer wieder werde das Vertrauen in die Demokratie erschüttert.

www.greifswald-1989-90.de heißt die Internetseite, die nun zum Diskutieren anregen soll. Jeder, der Briefe, Erinnerungen, Fotos, Zeitungsartikel oder andere Dokumente zum Thema aufbewahrt, kann sie darüber öffentlich machen. Schon jetzt ist viel zusammengekommen: eine Chronik der Revolutionsereignisse in der Stadt etwa, Briefe und Hörprotokolle der ersten „Mensa-Gespräche“, in denen Greifswalder Stasi-Mitarbeiter regelrecht zur Rede gestellt und ausgebuht wurden. „Diese Aufnahmen hätten damals eigentlich nach zwei Wochen gelöscht werden müssen“, erzählt Hinrich Kuessner und grinst spitzbübisch. „Ich hab mir aber vorher Kopien gezogen.“

Eine stille Form des Protests – von klein auf hatte Kuessner diese Haltung als selbstverständlich erlebt. Sein Vater leitete den Michaelshof in Rostock, ein Heim für geistig Behinderte, war damit Anwalt einer verachteten Randgruppe. Die Familie ging zur Kirche, nicht aber zu den Jungen Pionieren oder der FDJ. „Das machte man bei uns nicht.“ Und später, in den 70er Jahren, stellte Hinrich Kuessner mehrere Ausreiseanträge für sich und seine Familie, weil er sich beruflich eingeengt fühlte. „Ich hatte Theologie studiert, weil nichts anderes möglich war“, erzählt er. Erst über Umwege in der kirchlichen Verwaltung bekam er später eine Stelle, die ihn reizte: Leiter des Diakonischen Werks.

Dass er im Herbst 1989 zu denen gehörte, die der SED endlich etwas entgegen setzen wollten, klingt da nur logisch. Kuessner zettelte nicht nur die Besetzung der Stasi-Kreisstelle an, sondern leitete auch den Untersuchungsausschuss der Stadt, der nachher die geretteten Dokumente sichtete. Die Mitglieder nahmen Hinweise von Bürgern entgegen, deckten so auch Wahlbetrug und andere Willkürakte der SED auf. „Es war erschreckend zu sehen, wie viele Stasi-Leute es tatsächlich in Greifswald gab“, erinnert sich Hinrich Kuessner. 58 Hauptamtliche seien es gewesen und etwa 200 Informanten, 114 allein für die Greifswalder Uni-Mitarbeiter.

Aber nicht nur diese Perspektive sollen die Internetseite und die Tagung in den Fokus rücken. „Wir versuchen, auch an Leute ranzukommen, die damals auf der anderen Seite standen“, erklärt Kuessner. Das sei nicht einfach, denn natürlich gebe es Menschen, die sich bis heute von Stasi- Mitarbeitern verraten und beschädigt fühlten, ihnen deshalb grollten. „Aber viele ehemalige Befürworter des Systems haben eine gewaltige Entwicklung durchgemacht“, sagt er. Auch das gelte es wahrzunehmen.

Die Tagung soll zudem nicht bei der Vergangenheit stehen bleiben, sondern den Blick auch auf die Gegenwart lenken: vor allem auf die Abhörpraktiken des amerikanischen Geheimdienstes NSA. „Natürlich ist die NSA nicht vergleichbar mit der Stasi“, sagt Hinrich Kuessner. Aber die Methoden ähnelten sich doch und verstießen klar gegen die Rechte von Bürgern. Für ihn ein Skandal. „Unsere mühsam erkämpfte Freiheit dürfen wir uns nicht wieder aushöhlen lassen.“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 34/2014


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