Jörg Jeremias und Enkelin Camilla im Gespräch Ein ganz besonderes Familienband: 100 Jahre Familie Jeremias und das Heilige Land

Professor Jörg Jeremias, Camilla und Bischof Tilman Jeremias betrachten alte Familienfotos

Foto: A. Klinkhardt

21.08.2020 · Rostock.

Jerusalem als Sehnsuchtsort – dort wirkten, studierten, lebten über 100 Jahre fünf Generationen der Familie Jeremias: Friedrich Jeremias (1868–1945) war Propst an Jerusalems Erlöserkirche zu einer Zeit, als Jerusalem noch zum Osmanischen Reich gehörte und sich die evangelische Kirche dort u.a. durch die Auguste-Victoria-Stiftung oder die Arbeit der Kaiserswerther Schwestern stark sozialdiakonisch engagierte. Sohn Joachim Jeremias verbrachte seine Kindheit und Jugend in Jerusalem und hatte später als Orientalist und Neutestamentler Kontakte zu jüdischen Gelehrten wie Martin Buber. Dessen Sohn, der Alttestamentler Prof. Jörg Jeremias (Jahrgang 1939, heute München), lehrte und forschte im Heiligen Land. Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche, studierte in Jerusalem und engagiert sich seit langem für den christlich-jüdischen Dialog. Seine Tochter Camilla (19) war 2018 auf Jugendaustausch in Israel.

Annette Klinkhardt hat Professor Jörg Jeremias und Enkelin Camilla vor einer Veranstaltung zu dieser besonderen Familiengeschichte im Rostocker Max-Samuel-Haus befragt:

Als Friedrich Jeremias in Jerusalem Propst war (1910 bis 1918), gehörte die Stadt zum Osmanischen Reich…

Jörg Jeremias: Wenn es in die eigene Familiengeschichte hineingeht, sagen wir schon Heiliges Land, weil es den Staat Israel zu dem Zeitpunkt gar nicht gab. Auch solange Jerusalem geteilt war, lag die evangelische Erlöserkirche im jordanischen Teil, in Palästina. So habe ich von klein auf diese Bezeichnung gehört. Für mich ist es auch ein heiliges Land. Schon allein deswegen, weil dort die Texte spielen, die mein Leben bestimmt haben, und die ich, wenn ich den Begriff richtig verstehe, als heilige Texte bezeichne. Es sind eben keine Texte wie alle anderen.

Die Texte sind alle historisch und in sich lokalisiert. Insofern könnten sie an keinem anderen Ort spielen als in diesem Land und insoweit sind auch die Orte, an denen sie spielen, heilig. Es hat einen Benediktinermönch gegeben, der von dem Land als fünftem Evangelium gesprochen hat. Darüber kann man durchaus streiten, aber die Intention, die er damit verband, würde ich bejahen.

Fünf Generationen verbunden mit dem Heiligen Land und besonders Jerusalem. Ist das eine Art Vermächtnis?

Jörg Jeremias: Es ist ein glücklicher Zufall, der dazu geführt hat. 1958 hatte mein Vater, der Neutestamentler Joachim Jeremias, ein Stipendium für einen Aufenthalt in Jerusalem, was zu der Zeit sehr ungewöhnlich war. Er sollte ein Buch verfassen über die heiligen Gräber zur Zeit Jesu, also vor allem die Gräber von damals verehrten Propheten. Zu dieser Zeit gab es im jordanischen Teil Jerusalems ein einziges Hotel. Und dort alleine zu wohnen wäre viel teurer gewesen, als mit seiner Familie für ein viertel Jahr in Jerusalem zu leben, was wir dann gemacht haben. Dieses viertel Jahr hat mich ungeheuer geprägt und nicht wieder losgelassen. Insofern kann ich nur froh und dankbar sein, dass es das gegeben hat. Aber wie eine Biographie aus Zufällen besteht, die man als glückliche Fügung verstehen kann, ist dieses Vermächtnis auf mich ganz natürlich zugekommen.

Camilla Jeremias: Ich wusste zwar von klein auf, dass mein Vater (Anm. d. Red.: Bischof Tilman Jeremias) in Israel studiert hat, weil es jedes Jahr ein Treffen mit den Studienkollegen gab, aber ich kann mich nicht erinnern, dass das so stark Thema bei uns war. Für mich wurde Israel erst zu einem Begriff, als ich selbst 2016 zum ersten Mal mit den Familien der Studienkollegen meines Vaters da war, und dann vor allem 2018. Da war ich im Rahmen eines Schüleraustauschs für eine Woche dort. Wir sind hingeflogen, und die israelischen Schülerinnen und Schüler haben uns dort empfangen, das war eine Überraschung, und wir sind mit dem Bus vom Flughafen in unsere Familie gefahren. Ich war ziemlich aufgeregt, dass ich in einer fremden Familie wohne, aber die war so herzlich! Eines der schönsten Dinge, die ich da erlebt habe, war diese Gastfreundschaft. Meine Austauschschülerin Tiltan hatte zwei kleinere Geschwister, die konnten zwar nicht gut Englisch, aber das hat uns nicht gestört, die haben mir Fragen gestellt, und die Eltern waren so herzlich, dass ich mich da willkommen gefühlt habe.

Ihr Vater Joachim und Sie, Herr Jeremias, gehörten zu den ersten Deutschen, die nach 1945 in das Heilige Land gereist sind. Wie war das?

Jörg Jeremias: Dazu ein Erlebnis, das mich persönlich ungeheuer geprägt hat. Ich war mit meinen Geschwistern 1962 auf einer touristischen Reise zu einem Zeitpunkt, als es das eigentlich noch nicht gab. Wir waren naiv und überschritten am Jom Kippur (höchster jüdischer Feiertag, das Versöhnungsfest) in Jerusalem einfach die Grenze, das Mandelbaumtor. Und am Jom Kippur war kein Gefährt aufzutreiben, also machte sich mein Bruder auf, um ein Gefährt aufzutreiben, und ich blieb bei unserem Gepäck bei einem Zöllner. Drei Stunden lang war kein Gespräch möglich, obwohl ich es immer wieder versuchte. Mein Bruder kam nach dreieinhalb Stunden zurück, und innerhalb dieser letzten halben Stunde brach es aus diesem Zöllner heraus: Seine ganze Familiengeschichte, er hatte fast alle Familienmitglieder im Holocaust verloren und sprach das erste Mal wieder zu einem Deutschen. Dafür musste er ungeheure Hemmungen überwinden, so etwas vergisst man nicht. Insofern ist in dem Land unsere unheilvolle Geschichte immer präsent, das geht gar nicht anders.

Camilla Jeremias: Wir waren auch in einem Museum zur Erinnerung an den Holocaust und haben uns vor allem mit dem Eichmann-Prozess auseinandergesetzt. Man spricht schon darüber. Aber was mir am meisten im Kopf geblieben ist und was ich fast ein wenig erschreckend fand: Ich war einmal mit meiner Austauschschülerin Tiltan und zwei ihrer Freundinnen unterwegs, und die haben mir gesagt, dass sie mit dem Holocaust sie gerade als junge Generation viel lockerer umgehen als wir Deutsche, dass sie da auch Witze machen, dass das für eher etwas geschichtliches ist und nicht mehr so aktuell. Also ich hatte den Eindruck, dass sie da eher lockererer drüberblicken als wir Deutschen.

Es ist nicht nur ein Familienband, sondern man spürt auch eine große Begeisterung, wenn sie über das Heilige Land und Jerusalem sprechen.

Jörg Jeremias: Das ist ein Verhältnis wie eine Liebe, die aber später nicht wesentlich primär über unsere Familiengeschichte gegangen ist, sondern über die Texte, zu denen ich geforscht habe, und mein Hobby, die biblische Archäologie. Achtzehn Mal war ich in Israel, um dort zu lehren und bei Ausgrabungen dabei zu sein. Die Ergebnisse der Ausgrabungen werden nämlich immer erst mehrere Jahre später veröffentlicht, so lange möchte ich nicht warten. Wenn man an Ort und Stelle ist, erfährt man sie viel früher, als wenn man sie nur liest.

Camilla Jeremias: Für mich war das Highligt die Gastfamilie, aber auch dieses Gruppengefühl. Wir leben ganz unterschiedliche Leben, und trotzdem bilden wir eine Gruppe. Der letzte Abend war auch gut: Wir waren ohne Erwachsene in der Schule und haben Karaoke gesungen und getanzt. Dieses Gruppengefühl, dass auch mit kulturellen unterschiedlichen Gemeinschaft entstehen kann, war superschön, ich habe es sehr genossen.

Außerdem habe ich einen neuen Blick auf Religion fassen können, dadurch dass ich in einer jüdischen Familie war. Wir haben Chanukka gefeiert, und ich konnte das viel intensiver miterleben als hier in Deutschland. Ich bin natürlich christlich aufgewachsen in einer Pfarrerfamilie und habe so gemerkt, man kann das auch anders machen. Und darüber einen viel tieferen, persönlichen Kontakt zu bekommen, das war schön.

Quelle: kirche-mv.de (ak)


Hinweis

Vom 21.6. bis 20.9.2020 ist im Greifswalder Dom passend zu der Veranstaltung noch die Ausstellung zu sehen „Mecklenburger und Pommern im Heiligen Land“. Mehr Infos unter: www.dom-greifswald.de/termine/ausstellungen.html