Ausstellung, ab 6. November 2023 im Archiv am MarktplatzEs begab sich in alter Zeit …
... Nicht lange, nachdem am 4. Januar 1248 im brandenburgischen Spandau, heute einem Stadtteil von Berlin, der Markgraf Johann den Stiftungsbrief für Neubrandenburg an den Ritter Herbord von Raven übergeben hatte, sind sie vermutlich im Frühjahr gen Norden in das unbekannte Land aufgebrochen – ein Tross von Siedlern – Pionieren, vielleicht auch Abenteurern, für die es kaum Wege, schon gar keine Straßen gab. Wie lange sie brauchten, wissen wir nicht, doch die ungewöhnliche Schönheit des Sees und seiner Umgebung blieb sicher nicht unbeachtet, als die deutschen Siedler diese Gegend erreichten. Sie schlugen ihre Pflöcke auf einer großen Sandlinse ein, umgeben von morastigen Flächen, die ihr anfänglicher Schutz sein sollten und die sie später urbar machen wollten.
Das alles geschah in einer Gegend, die sich im mittelalterlichen Spannungsfeld zwischen weltlichen und geistlichen Mächten in Norddeutschland bewegte. Sie waren nicht allein, als sie ankamen. Einige Jahrhunderte vor ihnen siedelten slawische Stämme am Südufer des Sees. Auf sie geht das später gefundene Heiligtum Rethra zurück, sogar eine Stadt mit diesem Namen soll es dort gegeben haben.
Auch war knapp achtzig Jahre vor ihnen, im Jahr 1170 gegenüber am nordwestlichen Hochufer des Sees, quasi in Sichtweite, das Kloster Broda angelegt worden. Hier hatten sich Mönche des Prämonstratenserordens angesiedelt und diese erhielten später das Patronatsrecht über die St. Marienkirche. Weiter südlich kamen in Nemerow die Mönche des Zisterzienserordens als Nachbarn dazu. Weitere lebten in Dörfern und Siedlungen in der Umgebung und auf der Burg Stargard. Eine größere Stadt war Friedland, das 1244 ebenfalls für deutsche Siedler von den Brandenburgischen Markgrafen Otto und Johann gestiftet wurde. Diese Nachbarn sahen, was sich am Nordostufer des Tollensesees tat. Eine Stadt mit besten Privilegien ausgestattet wuchs dort heran.
Nahezu alles vollzog sich hier unter vermeintlichem religiösem Schutz. Der Glaube war gelebter Alltag. Und so verwundert nicht, dass die Altarweihe der St. Marienkirche schon 50 Jahre nach der Stadtgründung erfolgte. Die Stadt wuchs unter guten Umständen heran und entwickelte sich prächtig. Aus dem anfänglichen Palisadenzaun zum Schutz vor Übergriffen wurde eine stattliche Mauer mit erst drei, dann vier Toren errichtet. St. Marien war die Hauptkirche für die Gemeinde. Die heutige Johanniskirche gehörte zu der Zeit dem Franziskanerorden. St. Marien war trotz mehrerer großer Schäden (Brände) immer wieder durch den Willen und die Kraft der Gemeinde aufgebaut worden. So verhielt es sich auch mit den geistlichen Schriften. Die Bestände der Bibliothek von St. Marien wurden Mitte des 16. Jahrhunderts am südlichen Ende der Kirche in einem Gebäudeanbau aufbewahrt. 1566 kommt Georg Schirmer, neuer Pastor primarius und Superintendent – ein streitbarer Geist in seiner Zeit, nach Neubrandenburg. Er hatte umfangreiche literarische Kenntnisse und legte eine bedeutsame Sammlung an, die er knapp zwanzig Jahre später der St. Marienkirche verkaufte. Schirmer hat sich als ehrbarer Christenmensch aber ebenso Ethik und Moral verschrieben und legte sich daher häufig wegen weltlicher Erscheinungen an. Leider war auch der von Schirmer so sehr gehegte Wunsch, seine Bibliothek zu schützen und zu erhalten, nicht von Erfolg gekrönt.
Denn am 20. Mai 1676 setzt ein Reiter durch unachtsame Schüsse ein Strohdach in Brand, und einer der heftigsten Stadtbrände, die die Stadt heimsuchten, fügte auch der St. Marienkirche große Schäden zu, und so versank die sogenannte „Schirmersche“ Bibliothek in Schutt und Asche.
Die zweite Kirchenbibliothek von St. Marien ist vermutlich kurz nach diesem Ereignis Ende des 17. Jahrhunderts neu aufgebaut worden. Pastoren der Region, Kantoren und Rektoren der örtlichen Schulen waren durch Schenkungen und Spenden in hohem Maße am Aufbau beteiligt. Diese neue oder zweite Bibliothek wurde oder wird auch als Propsteibibliothek oder umgangssprachlich als „schweinslederne“ bezeichnet. Ende des 19. Jahrhunderts registrierte der Rektor der Volks- oder Bürgerschule Rat Dr. Karl Wendt 313 Bücher in der „Inventar-Aufnahme der schweinsledernen Bibliothek“. Diese originale Aufzeichnung ist noch vorhanden und befindet sich heute im Landeskirchlichen Archiv in Schwerin. Die Propstei-Bibliothek verblieb während der letzten Kriegstage 1945 im Pastorenhaus erhalten, während die Marienkirche (und mit ihr 80% der Innenstadt) eine Woche vor Kriegsende durch drei Brandherde ausgelöst, innen ausbrannte und zerstört wurde. Eine langjährige Wohnungsnot verbunden mit zahlreichen weiteren Versorgungsengpässen war in der Stadt die Folge. Dies betraf auch die Gemeinde. Die „schweinslederne“ Bibliothek zog nach Schwerin ins Landeskirchliche Archiv und war dort bis 1985 untergebracht, als ein erneuter Raumbedarf sie aus Schwerin in die Höhen der Nikolaikirche Rostock „vertrieb“. Mehrere Pastoren wechselten in Neubrandenburg inzwischen in ihrer Verantwortung für die Gemeinde. Auch vollzogen sich grundlegende Veränderungen im gesamtgesellschaftlichen System. Das Wissen um die Existenz dieser Bücherwerte ging offenbar verloren. Nicht so in Rostock. Nach dreißig Jahren förderte ein Digitalisierungsprojekt der Universitätsbibliothek Rostock und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, der Nordkirche, mit moderner Technik den wertvollen Bestand wieder ans Tageslicht und in unser Bewusstsein. Völlig überrascht von diesem ideellen und materiellen Reichtum musste die inzwischen zuständige St. Johannisgemeinde nun entscheiden, wohin mit diesen Büchern. Die Gemeinde und ihr Pastor Ralf von Samson vereinbarten mit der Stadt, dass die Bücher zwar im Besitz der Gemeinde verbleiben, ihre Unterbringung jedoch in der nahegelegenen Regionalbibliothek mit klimatisiertem Magazinbereich erfolgen soll. Nach über 40 Jahren kehrten 916 Bücher, darunter Unikate und Inkunabeln, in die Stadt zurück, und nun schließt sich der Kreis.
Das Neubrandenburger Stadtarchiv entwickelt gemeinsam mit vier Kirchenvorständen den Gedanken an eine Ausstellung, die ab 6. November diesen Jahres im Archiv am Marktplatz gezeigt werden soll. Die Kirchengeschichte, der religiöse Glaube sind eng mit der Stadtgeschichte verbunden, und auch daran wird im Jubeljahr erinnert.
Eleonore Wolf