Vor 25 Jahren flüchteten mehrere Hundert DDR-Bürger über Ungarn nach Österreich Das erste Loch in der Mauer

Von Karl-Heinz Baum

"Der Durchbruch": Ungarischen Grenzsoldaten reagierten besonnen und schritten nicht ein

© „Paneuro01“ von Wik1966total (Wikimedia Commons)

19.08.2014 · Berlin/Sopron.

"Warum kommen die denn da so g'schwind daher g'rennt?" fragt sich der österreichische Gendarmerie-Oberst Stefan Biricz am 19. August 1989, als er Dienst an der Grenze zu Ungarn tut. Die Leute rennen auch noch an ihm vorbei. Da dämmert ihm, dass es gar nicht die erwarteten Ungarn sind. Biricz identifiziert die Gruppe als Ostdeutsche, rennt ihr hinterher und ruft: "Ihr brauchts nimma renna! Ihr seids in Österreich!" Als die Leute endlich stehen, sagt er: "Es sind noch vier Kilometer zum nächsten Ort, nach St. Margarethen." Ganz aus der Puste lachen die: "Mann. Wir kommen aus Leipzig und Dresden. Was sind da noch vier Kilometer!" und ziehen fast gemütlich ihres Wegs.

Schwieriger war es da schon für den Dienst habenden Kommandeur Arpad Bella auf der ungarischen Seite wenige Minuten vorher. Er erwartet auf dem freien Platz vor dem jahrzehntelang geschlossenen Grenztor an der alten Landstraße Wien-Bratislava festlich gekleidete Landsleute zum "Paneuropäischen Picknick". Aufgerufen haben dazu das Demokratische Forum Ungarn und die Paneuropa-Union. Schirmherren sind der Reformkommunist und Minister Imre Pozgoy und der CSU-Europaabgeordnete Otto von Habsburg. Mit dem Picknick soll dort, wo vor Wochen noch Stacheldraht war und die Scheidelinie zwischen zwei Weltsystemen verlief, eine friedvolle Demonstration für ein Europa ohne Grenzen stattfinden. Dafür soll Bella mit Zustimmung der Regierungen in Wien und Budapest um 15 Uhr das Grenztor für drei Stunden öffnen.

Der ungarische Grenzkommandeur bemerkt, dass immer mehr im Grunde untypische Leute an den Grenzabschnitt kommen und sich die Suppe aus der Gulaschkanone schmecken lassen. Darüber macht er sich kaum Gedanken, gibt es doch Flugblätter über diese Demonstration. Auch die Zeitungen und die Rundfunksender berichten darüber. Da ist es nur natürlich, dass auch Schaulustige kommen.

Der Eiserne Vorhang zerriss zuerst in Ungarn

Als kurz vor der offiziellen Öffnung plötzlich rund 150 Menschen gegen das Grenztor drängen, bleiben Bella nur Sekunden um zu entscheiden, was zu tun ist. Seine fünf bewaffneten Soldaten und er können diesen Ansturm nicht widerstehen. Schießen lassen will er nicht. So gibt er das Zeichen, die illegalen Grenzgänger zu ignorieren, sie also alle passieren zu lassen. Es sind vor allem junge Leute aus der DDR, die gerade Urlaub in Ungarn machen.

Arpad Bella hat am 19. August 1989 Geschichte geschrieben. Er hat dafür gesorgt, dass seit 1961 erstmals wieder ein ziemlich großes Loch in die Mauer gerissen wurde. Der Eiserne Vorhang zerriss zuerst in Ungarn. An diesem Tag melden sich 681 Menschen aus der DDR bei der bundesdeutschen Botschaft in Wien. Das Auswärtige Amt und damit auch die Botschaft wissen vom Fest mit der Grenzöffnung, rechnen mit Leuten aus der DDR, die die günstige Gelegenheit nutzen werden und halten Busse bereit, die die Flüchtlinge nach Bayern fahren.

Bella freilich musste in den nächsten Tagen die scheelen Blicke seiner Kameraden ertragen, weil er die Flucht nicht verhinderte. Ein Vorgesetzter leitete gar ein Disziplinarverfahren ein.

Inzwischen ist er längst hochdekoriert. Er trägt den Verdienstorden der Republik Ungarn. Zum 20.Jahrestag des Picknicks sagte Ungarns Regierungschef von 1989 Miklos Nemeth, die zeitweise Grenzöffnung sei ein Versuchsballon gewesen, um herauszufinden, wie Moskau darauf reagiere. Gorbatschow habe ihm versichert, die Sowjetunion werde die kommunistische Regierung nicht mit Gewalt an der Macht halten. Ein zweites Ungarn 1956 werde es nicht geben. Diese Zusicherung habe er am 19. August testen wollen.

Kaum hatte sich die Massenflucht verbreitet, machten in der DDR Witze die Runde: Für DDR-Bürger, die vom Ungarnurlaub zurückkehrten, gebe es einen neuer Orden: "Die goldene Meise". Es werde auch ein neuer Feiertag eingeführt: "Tag der Hinterbliebenen". Außerdem schaffe die DDR in den nächsten Monaten die Personalausweise ab: "Demnächst kennt hier jeder jeden."

Quelle: epd