Der 9. November veränderte auch das Leben von Hans-Joachim Kohl War das eine Nacht!

Von Hans-Joachim Kohl

Die Sektkorken knallten. Hans-Joachim Kohl hat noch einmal in seinem Fotoalbum geblättert und sich erinnert an seine Fahrt am 9. November 1989 über die Grenze in den Osten.

Foto: Hans-Joachim Kohl

10.11.2019 · Röbel/Müritz. Überall wird in diesen Tagen zu Zeitzeugengesprächen eingeladen. Wir haben unseren Kollegen, den selbständigen Kirchenjournalisten Hans-Joachim Kohl gefragt: Wie hast Du als Westdeutscher die Zeit um den 9. November erlebt? Hier sind seine Erinnerungen – stark gekürzt, denn einmal angefangen, kommt eins zum anderen.

An den 9. November 1989 erinnere ich mich noch recht gut. Ich wollte eigentlich ins Bett gehen, machte aber doch nochmal den Fernseher an und sah ungläubig, was da bei der Pressekonferenz mit Günther Schabowski passierte. Danach gab es für mich kein Halten mehr. Rein in die Klamotten, Fotoapparat klar gemacht und ab mit dem Auto zum Grenzübergang Gudow.

Ich lebte damals in Reinbek-Neuschönningstedt, östlich von Hamburg. Der Grenzübergang Gudow ist etwa 40 Kilometer weit weg. Als ich dort ankam, war noch nichts los. Erst ganz langsam kamen immer mehr DDR-Bürger, die einfach schauen wollten, ob das stimmte, was Günther Schabowski am frühen Abend in der Pressekonferenz verkündet hatte.

Die Stimmung wurde immer ausgelassener – wie auf dem Foto zu sehen ist. Die einen steckten den Ankömmlingen etwas zu, überreichten Blumen, Unbekannte umarmten sich und natürlich flossen Freudentränen. Auf meinen Fotos von damals sind auch einige Mikrofone zu erkennen. Daran hatte ich in der Hektik nicht gedacht, obwohl ich ja schon damals oftmit dem Mikro fürs Radio unterwegs war.

War das eine Nacht! Der Grenzübergang war voll mit Trabis, Wartburgs, Wolgas und anderen „Ostautos“. Am Kiosk und in der kleinen Gaststätte – überall drängten sich Menschen, prosteten sich zu, drückten sich. Sie konnten, oftunter Tränen, ihr Glück kaum fassen. Mir rieselt noch heute ein warmer Schauer den Rücken runter, wenn ich daran denke.

In den folgenden Tagen spielten sich unglaubliche Szenen in und um Hamburg ab und angeblich durften DDR-Bürger auf dem Hamburger Dom-Fest umsonst die Fahrgeschäfte benutzen. In unserem Ort gab es ständig „Ostwagen-Stau“ mit Zwei-Takt-Duft, aber das nahmen wir mit Humor und Freude hin.

Ich war noch kurz vor der Maueröffnung bei der Feier des 40. Jahrestags der SED in Ost-Berlin gewesen und hatte die Absetzung Honeckers mitbekommen. Bei unseren Verwandten war das eine Sensation. Außerdem hatte ich seit 1978 Freunde in der DDR, die ich mindestens ein Mal im Jahr besuchte.

Meine positiven Erlebnisse im „Osten“ gesellten sich zu familiären Verbindungen in die DDR: die Verwandten meiner Mutter lebten in Dresden und die Verwandten meines Vaters in der Magdeburger Börde. Manch schöne Erinnerungen bei Besuchen zu Weihnachten in München sind damit verbunden.

Die Dynamik der Maueröffnung

In Bremen geboren, habe ich 25 Jahre in Bayern gelebt. Mein theologisches Examen machte ich in Hamburg. Nachdem 1989 der eiserne Vorhang gefallen war, hatte ich versucht, mich auch beruflich in die noch bestehende DDR zu verändern. Ich erinnere mich noch an eine Veranstaltung mit Oberkirchenrat Dr. Eckard Schwerin aus Schwerin in Hamburg, da ging es um den Religionsunterricht.

Das konnte ich mir gut vorstellen, denn mit meinem Examen hätte ich dort unterrichten können. Die Verbindungen zu Bayern waren durch Studienkollegen nicht ganz abgerissen und letztlich führte der Kontakt mit Oberkirchenrat Rainer Rausch, der von München nach Schwerin gewechselt war, dazu, dass ich mich in Schwerin bewarb. Beim Religionsunterricht fand ich aber keine Beschäftigung, sondern in der Medienarbeit für die Mecklenburgische Landeskirche, weil ich Radio- und Fernseherfahrung im Bereich der Kirche hatte. Ich habe es nie wirklich bereut nach Mecklenburg gegangen zu sein. Manchmal habe ich gezweifelt, aber letztlich haben mich die symphatischen Menschen und die Familie, in die ich geheiratet habe, immer hier gehalten, wie auch mein Glaube an Gott.

Ein bisschen hatte ich gehofft, dass sich vielleicht in der ehemaligen DDR noch ein Zwischenweg zwischen manchmal etwas unmenschlichem, manchmal doch gnadenlosem Kapitalismus und dem diktatorischen DDR-Sozialismus finden lassen würde – aber das wurde ja auch durch die Dynamik nach der Maueröffnung enttäuscht. Manchmal dachte ich, die Fratze des harten Kapitalismus hat sich nach dem Mauerfall in der DDR doch oftziemlich unmenschlich gezeigt.

Wirklich vorbereitet auf ein wie auch immer geartetes Zusammengehen war man sozialpolitisch im Westen nicht, habe ich den Eindruck. Gut, auch ich selbst hatte im Oktober/ November 1989 nicht an Wiedervereinigung gedacht. Wie man sich doch manchmal täuschen kann.

Hans-Joachim Kohl war zur Wendezeit 32. Er arbeitete ab Juni 1991 bei Radio MV als Rundfunk- und Fernsehbeauftragter der Mecklenburgischen Landeskirche. Im Frühjahr trat Radio MV dem Norddeutschen Rundfunk bei. Ab August absolvierte Kohl sein Vikariat in Röbel. Von 1998 bis 2001 arbeitete er als Öffentlichkeitsbeauftragter der Kulturscheune Bollewick. Seit 2001 ist er selbständiger Kirchenjournalist und häufig in der Kirchensendung sonntags um 7.45 Uhr auf NDR 1 Radio MV zu hören und auch bei uns in der Kirchenzeitung zu lesen.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 45/2019