Pastorin Karen Siegert geht in den Ruhestand Bewahren und loslassen

Von Marion Wulf-Nixdorf

Rerik sei eine Traumstelle, ist Pastorin Karen Siegert überzeugt. Nun zieht sie nach Rostock.

Foto: Marion Wulf-Nixdorf

27.08.2017 · Rerik. Wir sitzen in einer Gaststätte, die Reriker Pastorin und ich, die Redakteurin der Kirchenzeitung. Abschiedsessen – Pastorin Siegert geht in den Ruhestand. Der Wirt kommt an unseren Tisch und legt 200 Euro vor die Pastorin: „Ich hab dies Jahr noch gar nichts gegeben“, sagt er und fügt hinzu: „Für einen guten Zweck.“ Pastorin Siegert strahlt. Gerade sind 20 Kinder aus Tschernobyl für vier Wochen Gäste der Kirchengemeinde. Da ist jede Spende besonders willkommen. „Der Wirt gehört gar nicht zur Kirche“, sagt sie. „Aber er unterstützt uns seit Jahren. Wie viele andere auch.“ Das ist Rerik.

Ob es eine Traumstelle ist, frage ich Karen Siegert, die 15 Jahre in Rerik, der kleinsten Stadt Mecklenburgs mit rund 2000 Einwohnern, als Pastorin tätig war. Dem Außenstehenden erscheint es so: Wunderschöne Kirche, genügend Ehrenamtliche, die sie offen halten, ein Pfarrhaus mit Blick auf das Haff, der Strand nur wenige Meter entfernt. Ein gut nutzbares, saniertes Gemeindehaus auf dem Pfarrgrundstück. Jeden Sommer viele Urlauber, die auch im Gottesdienst sind und die Konzerte besuchen und meist gute Laune haben – weil sie im Urlaub sind.

Karen Siegert, 63, kommt sofort ins Schwärmen. „Es ist ein Traum“, sagt sie. „Wunderbare Landschaft und Kirchen, Gemeinde, die ich liebe, Urlauber bereichern uns.“ Im Winter hätten die Einheimischen Zeit und da gäbe es ein intensives Gemeindeleben. „Wir haben eine tolle Kantorin. Musik im Gottesdienst ist wichtig. Und im Sommer die vielen Konzerte, die sie organisiert.“ Außerdem gebe es ein gutes Miteinander im Ort, mit der Feuerwehr, der AWO, den Landfrauen, der Kommune. „Das ist der Schlüssel zum Glück“, meint sie. „Die Reriker sagen, auch wenn sie nicht in der Kirche sind, das ist unsere Kirche, unsere Pastorin. Kirche ist auch Kulturträger im Ort!“ Rerik sei ein guter Ort, wo es ein Gemeinschaftsgefühl gebe.

Nachdem Karen Siegert sich gut in Rerik mit nur einem Predigtort eingelebt hatte, waren die für Mecklenburger Verhältnisse paradiesisch anmutenden Zeiten bald vorbei: Russow und Biendorf kamen hinzu. „Das war eine Herausforderung“, sagt sie. „Wir mussten mit den Kirchengemeinderäten ein Konzept überlegen, Schwerpunkte setzen. Nun finden in Russow im Sommer Konzerte statt, die Kantorin Annemarie Göttsche organisiert, sowie musikalische Andachten. In der Kirche befindet sich eine der ältesten Barockorgeln Mecklenburgs, ein Kleinod. Seit fünf Jahren ist die Kirche Ausstellungsort für Künstler aus der Region. Gründonnerstag und zum Johannisfest wird nur in Russow eingeladen. In Biendorf ist ein Mal im Monat um 14 Uhr Gottesdienst oder Taizé-Andacht. Besonders gern erinnert sich die Pastorin daran, dass im vergangenen Jahr nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder Konfirmation in Biendorf gefeiert wurde. Das habe viele Gemeindemitglieder sehr angerührt.

Jeden Abend 18 Uhr läuten die Glocken

Während der Dienstzeit von Karen Siegert wurden auf ihren Wunsch die Kirchentüren für Trauerfeiern für Nicht-Kirchenmitglieder, die auf der Suche nach Halt, Trost und einer kirchlichen Begleitung sind, geöffnet. „Dazu sind wir da, den Segen, die Kraft und den Trost, der von Gott kommt, weiter zu geben“, betont sie und ist den Kirchengemeinderäten, die diesem Wunsch zugestimmt haben, dankbar. Allerdings: Anonyme Beerdigungen lehnt sie ab. „Keiner lebt anonym und keiner stirbt anonym. Wir haben einen Namen bei Gott und auch das gilt es weiter zu sagen“, stellt sie klar.

Es sei wichtig, betont sie, dass Kirche sich öffnet – und trotzdem ihr Profil bewahre. Das sei eine der Grundfragen, über die es zu reden gelte. „Unsere Bürokratie, unsere Gesetze haben so zugenommen, da müssen wir aufpassen“, ist sie kritisch. Die Zeit wäre für Wichtigeres zu nutzen. Wie erreiche ich Kirchenferne und nehme trotzdem auch die Kerngemeinde mit? Es sei wie bei einem Umzug, sagt die Pastorin und guckt auf ihre vielen Kartons, die schon gepackt dastehen: „Was nehmen wir mit, was bewahren wir und was lassen wir los?“ Froh ist sie auch, dass jeden Abend um 18 Uhr in allen drei Kirchorten die Glocken läuten. „Gott ist da“, sagt sie. Die Glocken sollen Gottvertrauen und Heimatgefühl vermitteln.

Orthopistin, Sonderreifeprüfung und Theologiestudium

Karen Siegert ist in Güstrow geboren und wuchs in Parchim als Tochter des Kreiskatecheten Jürgen Walter und seiner Katechetin- Ehefrau Christa auf. Abitur durfte Karen nicht ablegen – weil sie weder Pionier noch Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ) war und auch nicht zur Jugendweihe ging. „Ich war tief traurig, dass ich nicht zur Erweiterten Oberschule durfte“, erinnert sie sich. Aber im Nachhinein bewundert sie die Haltung ihrer Eltern. „Sie haben es mir zugetraut und im guten Sinne zugemutet, dass ich meinen Weg gehe.“ Also lernte sie Orthopistin in Leipzig – raus aus der Provinz. Aus ihrem großen Traum, Schauspielerin zu werden, wurde später ihr Hobby – bis heute bringt sie immer wieder Menschen zusammen, die miteinander Theater spielen. Ihr nächster Auftritt: Am 3. September in der Reriker Kösterschün.

Karen Siegert entschied sich dann doch, Theologie zu studieren und legte die zu DDR-Zeiten mögliche Sonderreifeprüfung ab. Nach dem Theologiestudium in Rostock und Halle und dem Vikariat in der Rostocker Südstadtgemeinde war ihre erste Pfarrstelle in Lambrechtshagen, von der sie rückblickend sagt: „Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe – aber es war eine wunderbare Zeit.“ Es gab viel zu bauen an Kirche und Pfarrhaus – und kein Material und keine Handwerker „Aber es gab viele, die uns unterstützt haben.“ Da ihr Mann zu der Zeit Forschungsstudent und Assistent in Rostock war, kamen an den Wochenenden oft Studenten nach Lambrechtshagen, die hier eine Oase fanden. Und auch viel halfen, zum Beispiel beim Kohlen in den Schuppen schippen.

1992 wechselte sie in die Jakobigemeinde nach Rostock. Eine Gemeinde ohne Kirche, die Jakobikirche wurde in den 1960er-Jahren abgerissen. Die Gemeinde nutzte die Unikirche für ihre Gottesdienste. Mit ihrem Kirchenmusiker Karl Scharnweber hatte sie tolle Kirchenmusik. Es gab viele Kreise, viele Konfirmanden. Als die Unikirche saniert wurde, feierten die Jacobi- Gemeindeglieder ihre Gottesdienste in der Uni-Aula. Es waren auch bewegende und harte Zeiten: Drei Stadt-Gemeinden vereinigten sich nach jahrzehntelangen Überlegungen zur Innenstadtgemeinde. Da gab es viel Heimatverlust, Ängste um Eigenständigkeit. Gerade in einer Gemeinde, die schon ihre Kirche verloren hatte.

Morgenandachten bei NDR Kultur

Nun der Ruhestand. Bei einer Pilgerwanderung vor drei Jahren haben sich Karen und Karl-Matthias Siegert entschieden, in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Karen freut sich darauf, Zeit für ihren Enkel Titus, 2, zu haben. Und auf die gemeinsame Zeit mit ihrem Mann. „Den Jakobsweg gehen wir noch zu Ende. 500 km liegen bis Compostela noch vor uns.“

Eines will sie ohne Pause weiter machen: Radioandachten auf NDR Kultur. Einmal im Jahr eine Woche lang morgens kurz vor 8 zweieinhalb Minuten. Sie versuche, die ganze Woche unter ein Thema zu stellen. Es sei erstaunlich, wie viele Menschen diese Andachten hören, sagt sie. Karen Siegert scheut sich nicht, von sich selbst zu erzählen, von ihrem Glauben. Genau das ist es, was zum Zuhören verleitet. In der Woche vor Ewigkeitssonntag sei sie wieder dran. Und denkt schon jetzt zwischen den Umzugskisten darüber nach.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 34/2017