Flüchtlingsbeauftragte in MV über die Erfahrungen der ersten Monate "Begegnungen sind das Beste“

Die Flüchtlingsbeauftragten Dr. Sibylle Gundert-Hock (li.), Christine Deutscher und Flüchtlingspastor Walter Bartels (2. v. r.), hier zusammen mit Bischof v. Maltzahn auf dem MV-Tag 2016 in Güstrow.

Foto: C. Meyer

20.01.2017 · Schwerin/Rostock/Greifswald. Seit Herbst 2015, seit mehr Schutzsuchende zu uns kamen, hat sich viel bewegt in der Flüchtlingsarbeit. Drei Flüchtlingsbeauftragte haben in den Kirchenkreisen Mecklenburg und Pommern die Arbeit aufgenommen: Pastor Walter Bartels in Schwerin, Sibylle Gundert-Hock in Rostock und Christine Deutscher in Greifswald. Sebastian Koepke-Millon hat sie nach ihrer Bilanz gefragt – und nach den Herausforderungen im neuen Jahr.

Seit Ende 2015 haben sich unglaublich viele Menschen zusammengefunden, um Geflüchteten das erste Ankommen bei uns zu erleichtern. Was wurde seitdem erreicht und wo liegt mittlerweile der Fokus in der Flüchtlingsarbeit?

Deutscher: Überall im Land sind ehrenamtliche Netzwerke entstanden, und oft hat sich eine gute Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen entwickelt. Ehrenamtliche Deutschkurse waren von Anfang an ein großes Thema, das immer noch aktuell ist. Denn auch wenn sie schon einige Zeit hier sind, brauchen Erwachsene und Kinder dabei Unterstützung. Ein neues Thema, das viele Gemeinden beschäftigt, ist der Islam. Die Pommersche Synode hat deshalb eine Handreichung zum christlich-islamischen Dialog herausgegeben. Wichtig bleibt die Möglichkeit zur Begegnung, damit neue und alteingesessene Nachbarsleute sich kennenlernen, etwa in internationalen Cafés. Solche Begegnungen wirken sich sehr positiv auf das demokratische Miteinander aus. Inzwischen werden die Asylsuchenden aber aus Kostengründen aus den kleineren Orten wieder zurückverteilt in größere Gemeinschaftsunterkünfte. Damit geht die Chance, Fremdheit vor Ort zu erleben und mit ihr vertraut zu werden, leider vielerorts wieder verloren.

Bartels: Das ist in der Tat problematisch – ein Rückschritt für Möglichkeiten der Begegnung und Integration. Auch für diejenigen mit Aufenthaltstitel ist die eigene Orientierung hin in Metropolgebiete wie Berlin, Ruhrgebiet oder Hamburg vielleicht nicht immer nur das Beste: Gehen sie in den Großstädten nicht eher unter? Werden sie ihr Leben dort allein organisieren können, Anschluss finden? Entwickeln sich Parallelgesellschaften? Ich denke, Integration könnte in kleineren Kommunen zunächst leichter fallen. Und gerade auch MV mit seiner schrumpfenden Einwohnerzahl könnte davon profitieren, wenn Menschen die Chancen überschaubarer Lebensorte nutzen können. Wir sollten Geflüchtete auch animieren, hier zu bleiben und erst einmal richtig anzukommen. Das setzt natürlich Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten voraus – eine Herausforderung in unserem ländlich geprägten Flächenland.

Welche anderen Probleme müssen noch angegangen werden?

Gundert-Hock: Es werden jedenfalls nicht gerade weniger. In Hinblick auf Abschiebepraxis, Familiennachzug und vor allem bezüglich der Afghanistan-Frage muss viel getan werden und wird auch schon viel getan. Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland, das muss man in aller Klarheit sagen! Und die Kirche tut das, vor allem in Richtung der politischen Akteure – was auch dringend geboten ist.

Bartels: Bekanntlich geht die Tendenz ja allgemein hin zu einer restriktiveren Asylpolitik. Das kann man überall in Europa beobachten. Das kleine Zeitfenster im Sommer und Herbst 2015 war ein sehr deutsches Fenster, gewissermaßen. Mit all der Euphorie und den Problemen, die es mit sich brachte. Inzwischen rudert die Politik zurück – angesichts nahender Bundestagswahlen nicht überraschend. Zum Glück gibt es aber ständige Gespräche auch zwischen Kirchen und Politik auf vielen verschiedenen Ebenen. Und bei dem wichtigen Thema Rückführungen war zum Beispiel der „Afghanistan- Adventskalender“ der Nordkirche noch eine andere sehr gute Möglichkeit, die hochproblematische Aktion angestrebter Abschiebungen öffentlichkeitswirksam aufzuzeigen. Führe ich mir die Geschichten aus dem Kalender noch einmal vor Augen, ist mir schleierhaft, wie man Afghanistan als sicher einstufen kann.

Welche konkreten Unterstützungsmöglichkeiten sehen Sie aktuell für Ehrenamtliche und Kirchengemeinden vor Ort?

Deutscher: Weiterhin benötigen viele Menschen Hilfe während ihres Asylverfahrens. Hier ist es meist das Beste, auf entsprechende Beratungsstellen oder Rechtsbeistände zu verweisen. Diesbezüglich kann man sich zum Beispiel an das Diakonische Werk MV wenden. Dort stehen seit letztem Jahr Julia-Kristina Lichtenauer in Schwerin sowie Gregor Kochhan in Greifswald als juristische Referenten zur Verfügung.

Gundert-Hock: Vielleicht ergänzend, weil vorhin Deutschkurse angesprochen wurden: Wir sehen immer wieder, dass längst nicht alle Geflüchteten aus eigener Kraft die Sprach- und Integrationskurse bewältigen können. Viele haben eine abgebrochene Schullaufbahn hinter sich, da sie untertauchen mussten, um etwa ihrer Verfolgung, oder in Eritrea der Zwangsrekrutierung ins Militär, zu entgehen. Es braucht also häufig noch zusätzlichen Förderunterricht. Die Kirchengemeinde in Biestow zum Beispiel leistet an dieser Stelle großartige Hilfestellung mit qualifiziertem Nachhilfeunterricht.

Was halten Sie von Patenschaften?

Gundert-Hock: Ich denke, das Ziel muss sein, bestenfalls auf täglicher Basis Begegnungen zu schaffen. Patenschaften sind da eine wunderbare Möglichkeit. Aber sie müssen gut begleitet und klar umrissen sein. Eine professionelle Begleitung kann sehr hilfreich sein, um Betreuende mit Fragen von Nähe und Distanz, Übergriffigkeit und Ermächtigung nicht allein zu lassen. Und den Betreuten darf wiederum nicht einfach alles abgenommen werden. Es sind erwachsene Menschen, die lernen müssen, sich selbstbestimmt in Deutschland zu bewegen. Da ist also eine hohe Sensibilität in Hinblick auf Selbständigkeit und Abgrenzung erforderlich. Der persönliche und vertraute Kontakt von Mensch zu Mensch ist aber der wichtigste Aspekt, denke ich. Gerade für Geflüchtete, die direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland zunächst einmal behördlich erfasst und sozusagen fremdverwaltet wurden, ist es ungeheuer wichtig, als Mensch und Person wahrgenommen zu werden.

Wie wichtig ist die geistliche Begleitung Geflüchteter, eigentlich ja unsere Kernkompetenz als Kirche?

Deutscher: Viele Geflüchtete kommen aus Ländern, in denen Religion und Alltag wesentlich stärker miteinander verwoben sind als bei uns. Hier ist Glaube eher Privatsache. Das führt oft dazu, dass sich diejenigen, die ihren christlichen Glauben mitbringen oder sich auch erst hier der Kirche zuwenden, einsam fühlen. Da sind wir als Gemeinden gefordert, ein Stück Heimat anzubieten. Das können etwa Bibelgruppen sein oder auch mehrsprachige Liturgieteile im Gottesdienst. In den Gemeinden finden aber auch Gespräche über Religion mit Menschen muslimischen Glaubens statt. Einige Anregungen zu solchen Gesprächen finden sich zum Beispiel in der schon erwähnten Handreichung.

Bartels: Meine Erfahrung ist: Viele Menschen sind auf ihrer Flucht durch fundamentale „Nein“-Erlebnisse gegangen, wurden an Grenzen abgewiesen, umgeleitet, waren großen Strapazen, Angst und Mangel ausgesetzt. Der Glaube, der sie von ihrer Herkunft her prägt, hat eine große Rolle bei vielen von ihnen gespielt. Das erlebe ich in meiner Arbeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Stern Buchholz und Horst auch häufig so. Christen etwa unter den Geflüchteten haben einen ganz anderen Bezug zu ihrem Glauben. Nehmen Sie den 23. Psalm: Wir hier haben ihn schon so oft gehört, dass wir kaum noch wirklich hören, was er sagt. Aber für jemanden, der genau das erlebt hat – das Durchschreiten „finsterer Täler“, und dann aber auch den „bereiteten Tisch“ und das „Voll-Eingeschenkt- Bekommen“ nach Zeiten bitteren Mangels; denken Sie an die Szenen der Überschwänglichkeit am Münchner Hauptbahnhof – für so jemanden ist der biblische Text ganz nah am eigenen Erleben und eine buchstäblich reale Erfahrung. Das ist ein sehr unmittelbarer Zugang zum Glauben. Für uns Protestanten und Norddeutsche, die wir im Gottesdienst gern erst einmal fragen, „Was kann dieser Bibeltext uns und unserer Gemeinde heute noch sagen?“, ist eine solche Glaubensintensität eine echte Herausforderung und wird zu einer sehr bereichernden Erfahrung. Jedenfalls kann ich das für mich sagen. Darin liegt großes Potenzial für Begegnung und Dialog – mit Christen wie auch Muslimen, die mit ihrem ganz anderen kulturellen Hintergrund bei uns heimisch werden wollen. Ich selbst habe sehr viel davon und fühle mich oft überrascht und beschenkt.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 02/2017


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