Eine Schule für alle Die Evangelische Martinschule Greifswald hat Chancen auf den Deutschen Schulpreis

Von Sybille Marx

Tamina Engel sollte ursprünglich auf eine Förderschule für geistig und körperlich Behinderte gehen, doch an der Martinschule nahm man sie auf. Heute hat sie fast nur Einsen auf dem Zeugnis – und träumt vom Studieren.

Sybille Marx

04.02.2018 · Greisfwald. Sie ist unter den 20 besten, die Martinschule in Greifswald – schon das ein Erfolg. Anfang März kommt der Entscheid, welche deutsche Schule am vorbildlichsten umsetzt, was die moderne Gesellschaft fordert: selbstverständliches gemeinsames Lernen und Leben sogenannter „normaler“ Kinder und solcher mit „Förderbedarf“ Schon jetzt ist klar: die Evangelische Martinschule zeigt, wie das gelingen kann.

Inklusion in der Schule, was war das nochmal? Ach ja: Kinder mit „besonderem Förderbedarf“ sollen in „normalen“ Klassen lernen. „So wird Inklusion oft verstanden, aber darum geht es gar nicht“, sagt Lehrer Wolfram Otto von der Evangelischen Martinschule in Greifswald. Tatsächlich gehe es darum, die stigmatisierende, schmerzhafte Trennung zwischen „normal“ und „besonders“ endlich fallen zu lassen, Schule völlig neu zu denken. Er sieht begeistert aus, wenn er davon spricht. „Jedes Kind hat Förderbedarf, jedes Kind ist einzigartig“, sagt er. Eben das nehme die Martinschule zur Grundlage, um das Lernen für alle 550 Schulkinder einzeln zu planen – für Hochbegabte wie für geistig Behinderte und alle dazwischen.Schulleiter Benjamin Skladny sagt: „Für uns ist das ein Herzensanliegen und etwas ureigenes Evangelisches, kein Kind auszusondern.“

Bei der Robert Bosch Stiftung, die zusammen mit der Heidehof Stiftung seit 2006 innovative Lernkonzepte fördert, trifft dieser Ansatz auf Neugier, weil er Pionierarbeit auf dem Weg in Richtung Inklusion bedeutet. Unter 90 Schulen hat die Bosch-Stiftung die Martinschule in die Auswahl zum Deutschen Schulpreis aufgenommen, zusammen mit 19 anderen. Ende Februar wollen Bildungsexperten im Auftrag der Stiftung die Schule begutachten, ein ARD-Kamerateam soll den Alltag filmen, die Siegerschule bekommt 100 000 Euro. Otto findet: „Schon zu den ersten 20 zu gehören, ist eine Auszeichnung.“

Als Neugründung nach der Wende war die Martinschule vor 26 Jahren gestartet. Anfangs wurden Kinder mit geistiger Behinderung hier noch in Extra-Klassen unterrichtet, die möglichst oft mit den anderen zusammenkamen, nur körperlich Behinderte waren voll dabei. Inzwischen ist die Trennung bis Klasse 7 aufgehoben, die Schulleitung hat beschlossen, das inklusive Konzept bis in Stufe 8 weiter zu ziehen und langfristig vielleicht noch in die 9. „Das ist eine Riesenherausforderung, weil die Leistungsvoraussetzungen der Kinder immer unterschiedlicher werden“, sagt Otto.

Frontalunterricht für alle ist keine Lösung

„Wie soll ich Unterricht machen, wenn der eine schon den Satz des Pythagoras kann, der andere noch nicht mal schriftlich multiplizieren?“ Frontalunterricht für alle – damit geht es schon mal nicht.

Und so beginnt ein typischer Morgen in der Martinschule so: In ihren „Stammgruppen“ versammeln sich bis zu zwölf Schüler einer Klassenstufe, um mit ihrer Lehrerin den Tag zu planen. In einem Raum im ersten Stock etwa hält Fünftklässlerin Stella eine Liste in der Hand, sieben weitere Schüler sitzen im Stuhlkreis. Bevor die Tageslosung gelesen wird, fragt Stella, eine der Lernstarken, erstmal jeden, was heute auf seinem Lernplan steht. „Fabeln“, sagt der eine, „Multiplikator-Check“, der andere. Je nachdem, welche Ziele er sich in Absprache mit Lehrern und Eltern gesteckt hat, wie weit er auf diesem Weg ist und was er als nächstes lernen will.

An der Martinschule sind sie überzeugt Von diesem Ansatz profitieren alle Schüler, die lernstarken wie die -schwachen. „Weil wir die Kinder einbeziehen, fühlen sie sich selbst verantwortlich für ihre Lernfortschritt und können, solange es im Rahmen des Lehrplans bleibt, nach ihren Interessen gehen“, sagt Otto. Statt ständigen Tests mit Noten gebe es zudem Selbst-Checks und Feedbackgespräche. „So hat das Kind ein eigenes Ziel und damit eine ganz andere Motivation zu lernen.“ Erste Untersuchungen von Erziehungswissenschaftlern der Universität Greifswald zeigen: Die Motivation ist höher als in traditionellen Lernkonzepten mit viel Frontalunterricht. Und erst in der 9. Klasse werden an der Martinschule doch noch Noten eingeführt – ein Zugeständnis an die nahenden Abschlüsse.

Man muss jeden Schüler gut kennen“

Für den Alltag heißt der Ansatz: Jeder Lehrer muss Konzepte für das freie Arbeiten in Kleingruppen vorbereiten „und er muss seine Schüler gut kennen“. Nicht immer sei das leicht, sagt Otto. „Es bedeutet für viele ein Umdenken.“ Aber eines, das eigentlich selbstverständlich sein sollte für jede evangelische Schule, findet Schulleiter Benjamin Skladny. „Wenn man jedes Kind als Individuum sieht, das eine von Gott gegebene Würde und Einmaligkeit hat, dann kann man keines ausgrenzen und muss auf jedes individuell eingehen.“ Letztlich sei es da egal, ob man ein Kind mit Migrationshintergrund vor sich sitzen habe oder eines mit Lerneinschränkungen oder einer Hochbegabung: „Man muss einfach für jedes Kind schauen: Was braucht es, um optimal lernen zu können, welche Ziele sind erreichbar, in welchem Tempo und mit welchen Methoden kommt es am besten voran?“ Gleichzeitig gelte es mit all diesen Individuen das Leben in Gemeinschaft zu üben, „sodass jeder lernt, den anderen zuzuhören, mit anderen Meinungen und Verhaltensweisen zu leben, was manchen gar nicht so leicht fällt.“

Ein, zwei Stunden später, in Klasse 10H, dem Kurs, der auf das Abitur zugeht, lässt sich beobachten, wohin dieser Ansatz im Idealfall führt: Deutschlehrerin Kornelia Tetzlaff hat sich in eine Ecke des Klassenzimmer zurückgezogen, vorn am Lehrerpult sitzt Zehntklässlerin Lena – und schmeißt souverän den Unterricht. Mit klarer, fester Stimme hat sie gerade ein Buch über die Nazi-Entbindungslager „Lebensborn“ vorgestellt, nun diskutieren andere Schüler mit ihr, geben ihr Feedback, loben ihre feste Stimme und die gut ausgewählten Zitate. „Mich brauchen sie kaum“, sagt Kornelia Tetzlaff.

Und mittendrin sitzt Tamina Engel im Rollstuhl, eine Einserschülerin mit Integrationshelfer an der Seite. Dass sie dabei ist, findet hier keiner ungewöhnlich. Die 16-jährige Svea antwortet auf die Frage, was das Besondere an der Martinschule sei, denn auch als erstes: „Dass wir so viel frei arbeiten.“ Meist gebe der Lehrer nur einleitende Erklärungen, „dann arbeiten wir selbständig weiter und helfen uns gegenseitig“. Schüler mit geistiger Behinderung gehören zwar nicht zur 10H, weil keiner von ihnen auf das Abi zugeht. „Aber früher waren wir in einer Klasse“, sagt Svea. „Ich finde das gut, denn ich sehe oft bei anderen, dass sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen, wenn sie mal jemanden mit einer Behinderung sehen.“ Probleme im Unterricht gibt’s natürlich auch manchmal, sagt Wolfram Otto. Mit Schülern, die laut sind, sich verweigern und andere damit stören. „Aber das gibt es an jeder Schule. Wir suchen dann individuelle Lösungen.“ Leiter Skladny sagt, mit diesem evangelisch-inklusiven Ansatz sei seine Schule ein Vorreiter in der Gesellschaft – einer Gesellschaft, in der keiner mehr ausgegrenzt wird.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 05/2018