Fachtag zum Umgang mit Flüchtlingen Seelentrümmer ans Licht holen

Von Christine Senkbeil

Gedacht wurde der Massenselbstmorde in Demmin nach der Themenkonferenz.

Foto: S. Kühl

17.05.2015 · Züssow/Demmin/Tribsees. Wir brauchen heute eine Willkommenskultur für Flüchtlinge. Doch die vergangene große Flüchtlingswelle der Heimatvertriebenen 1945 ist keineswegs aufgearbeitet. Die Konferenz „Schwierige Erinnerung“ in Demmin zeigte deutlich: Die Flüchtlinge litten am schwersten unter den Kriegswirren und erhielten wenig Hilfe. Damit aus den Fehlern von früher Chancen fürs Heute werden, veranstalten die Propstei Demmin und andere nordkirchliche Einrichtungen einen weiteren Fachtag. Der Umgang mit Flüchtlingen steht im Fokus.

„Rette sich, wer kann – dieser unausgesprochene Aufruf richtete sich vor allem an die Flüchtlinge, die in Tribsees gestrandet waren und nun bis auf den Grund erschüttert, in Angst und ohne Orientierung an diesem ihnen unvertrauten Ort ums nackte Überleben kämpften wie Ertrinkende. Wo war Unterschlupft zu finden und Schutz?“ Wigand Usarski war neun Jahre alt, als er 1945 mit Mutter Magret, Tante Lilo und Schwester Gabriele in die vorpommersche Kleinstadt kam. „Ein Grüppchen wie ein Tropfen in der großen Flut“, wie er in seinen Erinnerungen an die Flucht aus der Heimat („Im Dunkel unser Gesang“) beschreibt. Im bis zum Bersten mit Menschen gefüllten Pfarrhaus fanden sie Schutz vor den nächtlich betrunkenen Soldatenhorden. „Allgegenwärtig die Angst, Russen könnten eindringen, denn noch galt der Stalinbefehl, der Plünderungen und Vergewaltigungen ausdrücklich vorsah.“

Der Anteil der „Umsiedler“, wie der verfälschte Begriff lautete, machte 1946 in Tribsees 36,55 Prozent aus. „Es ist unerträglich“, so das Empfinden der Ortsansässigen. Und heute? 6000 neue Asylbewerber erwartet MV. „Seit 1945 gab es weltweit noch nie so viele Flüchtlinge wie heute“, sagt Pastor Matthias Bartels vom Regionalzentrum kirchlicher Dienste in Greifswald. „Etliche von ihnen suchen Hilfe bei uns.“ Doch wie gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg, mit den Flüchtlingsströmen, mit den Verletzungen dieser Menschen umzugehen und wie ging es denen, die sie aufnahmen?

„Der Heimatverlust einer Generation von Geflüchteten und Vertriebenen unterlag einem jahrzehntelangen Schweigegebot und blieb ein schwieriges Erbe“, hatte Irmfried Garbe auf der Themensynode des Pommerschen Kirchenkreises zur Fremdenfeindlichkeit im März 2014 erörtert. Die Synodalen hatten damals die Aufarbeitung der Geschichte als wichtiges Thema für die kirchengemeindliche Arbeit vor Ort benannt.

Mit den Nachwirkungen von Flucht und Vertreibung 1945 auf den heutigen Umgang mit Flüchtlingen beschäftigt sich am 21. Mai ab 10 Uhr ein kirchlicher Fachtag in Züssow bei Greifswald. Das Regionalzentrum, der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt MV (KDA) und die Propstei Demmin laden dazu kostenfrei ein, um Anmeldung wird gebeten. „Aufgrund unserer Vergangenheit ist das Thema Flucht und Vertreibung mit unbewussten Gefühlserbschaft en, mit ideologischen Tabus und historischen Vorurteilen verbunden“, sagte Bartels. „Und als Voraussetzung für eine Willkommenskultur sollten die seelischen und historischen Trümmer ans Licht gebracht werden“, ergänzt Pastor Jürgen Kehnscherper vom KDA.

"Nö! Du bist ja auch vom andern Stamm"

Laut Kehnscherper kamen knapp 900 000 Vertriebene nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins heutige Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Anteil an der Wohnbevölkerung machte fast 44 Prozent aus. Mehr also noch als im kleinen Städtchen Tribsees. Die Erfahrungen, die Wigand Usarski dort machte, sind dennoch exemplarisch. Das fremde Kind, das den Stadtjungen beim ausgelassenen Baden zuschaut und keiner sagt: „Komm doch her!“ Die Mitschülerin, die seine Schwester als Freundin ablehnt: „Nö! Du bist ja auch vom andern Stamm.“

Bei diesem Fachtag sollen die Erbschaft en der Vergangenheit in zwei Vorträgen und im Gespräch auf den Tisch kommen. Zugleich sollen historische und tiefenpsychologische Perspektiven aufgezeigt werden. Referenten sind der Historiker Andreas Kossert aus Berlin und die Lübecker Psychotherapeutin Bettina Alberti.

Kossert arbeitet bei der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ und ist Autor des Buches „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“. „Die drei großen Übel“, so hörte es einer der von ihm zitierten Zeitzeugen hinter sich reden, „das sind die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge“.

Auch die Fakten, die kürzlich bei der Konferenz „Schwierige Erinnerung“ in Demmin von Autor Florian Huber und Psychiatrie-Professor Harald Freyberger genannt wurden, zeigten deutlich: Die Flüchtlinge litten am unmittelbarsten. Sie stellen die größte Gruppe derer, die sich umbrachten. Und auch die allermeisten vergewaltigten Frauen waren Flüchtlinge.

„Seelische Trümmer“ blieben – so wie es auch der Titel des Buches von Bettina Alberti sagt, der zweiten Referentin. Ihre Erfahrung ist, dass auch 70 Jahre danach noch viele Menschen an den seelischen Folgen leiden. Wigand Usarski verbrachte drei Kindheitsjahre in Tribsees. Eine Zeit, in der bei aller Not auch eine Liebe zu dieser Stadt entstanden ist, die ihn durch sein ganzes Leben begleitet.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 20/2015


Fachtag: 21. Mai, 10 bis 15 Uhr, im BIOTagungshotel Wicherhaus Züssow. Anmeldung: 03834/8963111 oder regionalzentrum@pek.de

 

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