Was die Nordkirche in Ost und West 2014 bewegt hat Stationen auf dem Weg zu einer Kirche

Schritt für Schritt: In der Begegnung und im Austausch, auch im Streiten und Feiern wächst die Nordkirche langsam zusammen

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03.01.2015 · Hamburg/Schwerin. Im zurückliegenden Jahr wurden große Themen in der Nordkirche behandelt. Tilman Baier, Chefredaktuer der Kirchenzeitung in Mecklenburg-Vorpommern, und Sven Kriszio, Redaktionsleiter der Evangelischen Zeitung in Hamburg und Schleswig- Holstein, rufen die wichtigsten Debatten in Erinnerung.

Sven Kriszio: Tilman, mir fällt zuerst der Streit um das Landeskirchenamt in Kiel ein, den die Landessynode im November ausgetragen hat. In einer bemerkenswert langen Debatte von drei Stunden wurde starker Protest gegen die kostspielige Renovierung und Erweiterung des Verwaltungsgebäudes laut. Deutlich wurde dabei nicht nur, dass sich viele Synodale mit der Entscheidung für Kiel als Sitz des Landeskirchenamtes wohl noch nicht abgefunden haben. Sondern es hat sich auch gezeigt, wie unterschiedlich die Menschen in dieser Kirche sind und genauso ihre Vorstellungen von Kirche.

Tilman Baier: Ja, es war eine Stellvertreterdiskussion um die Fragen: Wo schlägt eigentlich das Herz der Nordkirche? Wie stellt sie sich nach außen dar? Wie ist die Machtbalance zwischen Landeskirche und den Kirchenkreisen im Lot? Trägt die Entscheidung, das Landeskirchenamt in Kiel zu belassen und eine Außenstelle in Schwerin einzurichten? Dahinter steht neben der Frage nach dem Verhältnis Ost-West in der Nordkirche auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen der starken Metropole Hamburg mit ihrer Sogkraft und den weitflächigen ländlich geprägten Gebieten.

Sven Kriszio: Die Sache ist entschieden. Aber es kommen Gefühle zur Sprache, Enttäuschungen. Deutlich wurde: Neben dem Zusammenfinden von Ost und West gibt es noch etliche andere Bereiche, in denen sich die junge Nordkirche verständigen muss. Da geht es um eine gemeinsame Identität, die Zeit zum Wachsen braucht.

Tilman Baier: Darum war es auch eine gute und wichtige Entscheidung des Synoden-Präsidiums, eine fast dreistündige Diskussion zuzulassen, auch wenn einzelne Synodale ungeduldig wurden.

Klima-Wende

Sven Kriszio: Ein weiteres wichtiges Ereignis in der Nordkirche war die Klima-Synode im September. Der Plan war, in der Landeskirche eine Klima-Wende einzuleiten und bis 2050 CO2-neutral zu werden. Das ist ein hartes Stück Arbeit, und entsprechend groß war die Aufmerksamkeit der Medien. Aus der großen Wende ist leider erstmal nichts geworden - vor allem, weil die Kirchenkreise sich nicht zentral vorschreiben lassen wollen, wofür sie ihr Geld ausgeben sollen.

Tilman Baier: Auch hier hat sich gezeigt, dass bei inhaltlichen Diskussionen um das, was diese Nordkirche auszeichnen soll, immer auch kirchenpolitische Machtfragen einfließen. Klar gibt es Einsparpotenziale: Manche Gemeinden, vor allem in den westlichen Kirchenkreisen, können sich ja fragen, ob eine Beheizung von großen gotischen oder barocken Kirchen wirklich sein muss, wenn die Sonntagsgemeinde im Winter auch in den Gemeindesaal passt. Doch schon die energetische Sanierung von 200-jährigen Pfarrhäusern ist teuer. Auch die Aufforderung an kirchliche Mitarbeiter, im Dienst mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, ist zwar lobenswert, aber in ländlichen Regionen oder bei Fahrten von Pasewalk nach Kiel kaum umzusetzen. Die Idee, dass in allen Gemeinden Elektro-Dienstautos fahren sollen, klingt noch sehr utopisch. Und dort, wo Kirche - wie der Kirchenkreis Mecklenburg mit seinem neugegründeten Energiewerk - selbst Betreiber von Windkraftanlagen werden will, begibt sie sich mitten hinein in eine hochemotionale gesellschaftliche Debatte, die zu Zerreißproben in Kirchengemeinden führen kann. Trotzdem bleibt positiv das Signal in die Öffentlichkeit: Kirche redet nicht nur über die Bewahrung der Schöpfung, sondern sucht Wege, im eigenen Betrieb mit gutem Beispiel voranzugehen.

Aufarbeitung des Missbrauchsskandals

Sven Kriszio: Mit gutem Beispiel vorangehen, das ist der Nordkirche beim nächsten Thema gelungen. Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in Ahrensburg ist für mich das wichtigste Thema dieses Jahres. Mein Eindruck ist, dass die Kräfte in der Kirche lange um die Konsequenzen gerungen haben. Am Ende steht nun glücklicherweise der Wille zur ehrlichen Auseinandersetzung. Mitte Oktober hat Bischöfin Kirsten Fehrs den Abschlussbericht einer unabhängigen Expertenkommission vorgelegt, er weist der Kirche die Richtung, wie künftig mit Missbrauchsfällen umzugehen ist. Dadurch sind nun nicht gleich alle Wunden der Opfer geheilt. Es ist auch nicht alle Schuld gesühnt. Aber es ist ein Boden bereitet, der ein Zusammenleben ermöglicht - nicht zuletzt in der Gemeinde in Ahrensburg.

Tilman Baier: Ich finde es sehr wichtig, dass Kirche sich, wenn auch spät, dieser Schuld gestellt hat. Wichtig ist auch, dass Mitarbeiter nun Richtlinien haben, um nicht in eine Grauzone zu geraten. Denn es gab unter ihnen durchaus auch Unsicherheit – und manche hatten bereits Angst davor, mit Kindern oder Jugendlichen auf Freizeiten zu fahren.

Sven Kriszio: Die Vorgänge in Ahrensburg haben erneut auch die Frage nach Transparenz und Kommunikation innerhalb der Kirche aufgeworfen. Fest steht, dass die weltlichen Medien bestimmte Themen mit einem anderen Blick und Interesse aufgreifen, als wir es als kirchliche Medien tun. Ich fürchte, nicht alles eignet sich für eine breite Öffentlichkeit. Innerkirchlich muss jedoch möglichst offen diskutiert werden.

Kirchensteuer auf Kapitalerträge

Tilman Baier: Noch ein unerfreuliches Thema innerhalb des Komplexes Transparenz und innerkirchliche Kommunikation tat sich gleich zum Jahresbeginn auf: die Ankündigung der Banken, in Zukunft die Kirchensteuer auf Kapitalerträge gleich an das Finanzamt abzuführen. Das hat in den Gemeinden für ziemlich viel Wirbel bis hin zu etlichen Kirchenaustritten gesorgt, obwohl wohl nur wenige betroffen sind und die Betroffenen auch nicht mehr zahlen als vorher durch ihre Einkommenssteuererklärung. Dass die Banken das schlecht oder unverständlich kommuniziert haben, ist ärgerlich. Aber noch ärgerlicher ist, dass die kirchlichen Stellen die Gemeinden nicht schon im Vorfeld informiert haben. Und ganz ärgerlich ist, dass weder von der Evangelischen Kirche in Deutschland noch von der Landeskirche oder den Kirchenkreisen sofort eine Klarstellung kam, als Anfang Januar die Unruhe groß wurde.

Sven Kriszio: Die spannende Frage ist, was die Austritte über die ausgetretenen Kirchenmitglieder sagen. Man könnte ja auch vermuten: Jetzt sind die Leute ausgetreten, die dieses Geld vorher nicht abgeführt haben. Oder: Jetzt sind die Leute so sauer über die Informationspolitik von Banken und Kirchen, dass es der berühmte Tropfen war…

Tilman Baier: Ich denke: beides. Anfang der 90er Jahre setzte in Ostdeutschland eine große Austrittswelle ein, als die Steuerberater kamen und sagten: Hey, guckt mal, so viel Geld könnt ihr sparen… In meinem Umfeld jedenfalls waren Menschen erbost und haben gefragt: Wieso bekomme ich einen Brief von der Bank und nicht von der Kirche?

Kirche im Wandel

Sven Kriszio: Diese Dinge machen deutlich, dass die Kirche mit mehr Gegenwind rechnen muss und vor einem großen Wandel steht: Vieles wird sicher von der Fusion von Ost-Kirchen und West-Kirche angestoßen. Das sorgt für Dynamik. Vieles wird aber auch durch den gesellschaftlichen Wandel erzwungen. Ein Beispiel dafür ist der Gottesbezug, der es - trotz eines Vermittlungsversuchs - nicht in die Präambel der schleswig-holsteinischen Landesverfassung geschafft hat. Die Kirche wurde an einen neuen Platz gestellt.

Tilman Baier: Wo sie im Osten schon lange ist. Ich meine dies nicht negativ. Denn dieser Platz bringt auch einen großen Freiraum, um Kirche für und mit anderen zu sein. Zwar ist die evangelische Kirche immerhin noch eine der größten gesellschaftlichen Organisationen in Mecklenburg-Vorpommern – aber eben doch eine Minderheitskirche. Das macht sie unverdächtiger, nur Eigeninteresssen durchsetzen zu wollen. So ist der kämpferische Atheismus, der den Kirchen in der DDR entgegenschlug, weithin einer freundlichen Gleichgültigkeit gewichen. Und wo sich soziale oder kulturelle Gemeinsamkeiten zeigen, da wächst auch ein Interesse der Zusammenarbeit bei Nichtchristen. Auch in der Politik sowie den säkularen Medien wird der kleinen Kirche eine recht große Bedeutung beigemessen.

Sven Kriszio: In den westlichen Teilen der Nordkirche wird in der öffentlichen Meinung der Ton rauer, man schaut sehr kritisch auf die Kirche. Aber diese Kritik zeigt auch, dass man immer noch sehr viel von der Kirche erwartet. Und trotzdem hat die Kirche im Westen noch immer eine große gesellschaftliche Bedeutung. Kirche und Diakonie sind nach wie vor äußerst wichtige Gesprächspartner.

Tilman Baier: Das ist eine von den interessanten Entwicklungen, die diese Nordkirche so spannend machen. Ich sage es jetzt mal sehr zugespitzt: Im Westen muss Kirche vom hohen Ross runtersteigen, auf dem sie im Osten schon lange nicht mehr sitzt. Im Osten müssen manche noch lernen, dass sie nicht nur Angst vor dem Ross haben müssen, sondern es ruhig auch mal streicheln können.

Zusammenwachsen noch ein langer Weg

Sven Kriszio: Was hat das zurückliegende Jahr für das Zusammenwachsen der Nordkirche gebracht? Ich meine: Die eine Kirche wird da greifbar, wo Menschen miteinander streiten, gemeinsam um Lösungen ringen, sei es auch schmerzlich. Ich glaube, diese Auseinandersetzungen sind die notwendigen Geburtswehen, damit die Menschen in Ost und West zusammenfinden.

Tilman Baier: Bisher ist die Nordkirche für mich am greifbarsten, wenn sie gemeinsam feiert – beim Gründungsfest in Ratzeburg, beim Kirchentag in Hamburg, beim Chorfest in Greifswald. Da wird Nordkirche als eine Landeskirche wahrgenommen. Ansonsten ist dieses Zusammenwachsen ein langer Weg, der sich noch über Jahrzehnte erstrecken wird. Wichtig ist nur, dass wir ihn Schritt für Schritt gehen. Es passiert im Austausch, auch im Streiten. Wenn Begegnung auf allen Ebenen immer wieder neu passiert und man zuhört, was der Andere zu erzählen hat, dann wird ganz langsam ein Gefühl wachsen: Wir gehören zu einer Kirche.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 01/2015