Von einer Annäherung zwischen Greifswalder Schülern und einem Juden aus Jerusalem „So was ist ein Verbrechen und sollte niemandem widerfahren“

Von Christine Senkbeil

Ehud Loeb zeigt in Yad Vashem auf die Namen seiner Retter.

Foto: privat

27.01.2015 · Greifswald. Das Yad Vashem in Jerusalem ist mehr als eine Holocaust-Gedenkstätte. Pädagogen aus aller Welt lernen dort, den jungen Menschen zu Hause diesen  Zeitabschnitt näher zu bringen. Auch Irmgard Fuhrmann aus Mecklenburg-Vorpommern war da. Und so lernten ihre Schüler das Schicksal von Ehud Loeb kennen, einem Holocaust-Überlebenden aus Israel.

Ich stelle mir vor, wie Sie in einem verlassenen Raum auf einem Stuhl saßen und dort auf Ihre Eltern warteten“, schreibt die 12-jährige Lena aus Greifswald und fügt eine Bleistiftzeichnung an, die jene Szene aus der Kindheit Ehud Loebs verewigt. „Der Bericht über die Zeit, in der Sie im Kinderheim waren, hat mich nachdenklich gemacht“, schreibt die Schülerin weiter, „weil sie nicht von ihren Eltern abgeholt worden sind.“ Ihren Brief schickt die Schülerin an den damals 12- und heute über 80-jährigen Ehud Loeb nach Jerusalem. Zusammen mit den Briefen ihrer Mitschüler.

Ehud Loebs bewegende Geschichte wurde aufgeschrieben, als er bereits ein alter Mann war. Seine Eltern hatten ihn damals nämlich nicht mehr abholen können, weil sie im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden waren. Sechs Jahre war er alt, als er mit seiner Familie aus Brühl in Baden in das südfranzösische Lager Gurs deportiert wurde. In Obhut einer jüdischen Hilfsorganisation überlebte er in wechselnden Verstecken und unter falscher Identität.

Es waren Pädagogen und Historiker aus Yad Vashem, die das Buch „Im Versteck“ mit ihm verfassten – Israels zentraler Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum. Denn in Yad Vashem erinnern nicht nur die Ausstellungsflächen an die nationalsozialistische Judenvernichtung. Es ist ein Ort, an dem unbekannte Opfer Gesicht und Namen und eine Geschichte bekommen, weil hier alles Material gesammelt wird.

„Geschichte besteht aus Geschichten“

Seit 1993 bietet die angegliederte „Internationale Schule für Holocaust-Studien“ (ISHS) ein vielfältiges Angebot an Fortbildungen für Pädagogen aus aller Welt an. Yad Vashem-Mitarbeiter entwickeln Unterrichtsmaterialien für den Einsatz in Grund- und weiterführenden Schulen, in diversen Sprachen, zugeschnitten auf die jeweiligen Länder. Auch für Deutschland. Irmgard Fuhrmann aus Mecklenburg-Vorpommern war für zwei Wochen dort und erfuhr von Ehud Loeb. „In Yad Vashem erkannten wir: Geschichte besteht aus Geschichten“, erinnert sich die Lehrerin vom Evangelischen Schulzentrum Martinschule in Greifswald. Die Geschichte Loebs nahm sie zum Anlass, ihre Schüler an die Thematik Holocaust heranzuführen.

„Als die Kinder hörten, dass er noch lebt, hatten wir dann die Idee, ihm zu schreiben“, sagt Irmgard Fuhrmann. Anna Stocker, deutsche Pädagogin am Yad Vashem, hatte die Weiterbildung in Jerusalem begleitet und vermittelte den Kontakt. 25 Briefe, Zeichnungen, ein Gedicht trudelten ein, anrührende Dokumente – schon wegen der Anteilnahme, die jedes Kind auf persönliche Weise zum Ausdruck bringt. „Berührt hat mich, als Ihre Mutter Sie weggegeben hat und nicht wusste, ob Sie überleben. Das war doch schrecklich für Sie“, schreibt Sophia, durchdenkt aber sofort beider Situation. „Für Ihre Mutter, weil Sie das einzige Kind sind, und für Sie, weil sie dachten, dass Sie Ihre Mutter nie wieder sehen.“

Es sind oft Details, die sich bei den fast jugendlichen Lesern einbrennen. Einige Schüler schreiben von den Apfelstücken, die Loeb im Buch erwähnt. „Bevor mir mein Vater mein Viertel zuschob, sagte er: ‚Iss immer die Kerne mit‘“, schreibt Loeb im Buch. Eine Textstelle, die Thilo zu seiner Lieblingszeile ernennt.

Denn die Details machen den Menschen Loeb und mit ihm den gesamten Zeitabschnitt für die Kinder erfahrbar. Deutlich wird dies auch darin, wie sehr die Kinder ihr eigenes Leben ins Verhältnis zu dem von Ehud Loeb setzen. „Meine erste Erinnerung ist, dass ich mit meiner Tante und Cousine auf einem Trampolin gesprungen bin“, schreibt Carolin. „Das war toll. Aber das, was Sie erlebt haben, als Sie drei oder vier Jahre alt waren, war nicht toll. Ich mag Ihr Buch und konnte mir zuerst nicht vorstellen, was die Nazis mit Kindern machten.“

„Kol Hakavot“, Hut ab! für Eure Arbeit!

Claudius erzählt Loeb von seinem Erlebnis im Jüdischen Museum Berlin. „An einer Wand hing eine Leiter, die ein paar Meter vor dem Boden abbrach. „Obwohl ich nicht allein war, fühlte ich mich sehr alleine. Kennen Sie dieses Gefühl? Nachdem ich Ihr Buch gelesen habe, bin ich überzeugt, Sie kennen es!“

Neben schon fast erwachsen wirkender Empathie-Fähigkeit spricht aus den Briefen aber auch oft kindliches Erstaunen über die Geschehnisse, mitunter gar Fassungslosigkeit. „Ich würde das nicht aushalten“, schreibt ein Mädchen. „Für uns ist heute so was unvorstellbar“, notiert ein anderes: „weil es heute keine Situation mehr gibt, wo einfach jemand kommt und einen umbringen darf, weil er ein Jude ist.“ „Ich finde, sowas ist ein Verbrechen und sollte niemandem widerfahren“, empört sich Lina-Charlotte, „gerade Kindern nicht.“

Und noch etwas wird offenbar durch diese Briefe. Nämlich, dass die jungen Menschen dankbar sind dafür, diese Geschichten zu erfahren. „Ich hatte bisher durch meinen Uropa Willi nur die Sicht des Soldaten“, schreibt Lina-Charlotte weiter. Und Lucy fasst zusammen: „Danke, dass Sie mir mit ihrem Buch ein Stück Vergangenheit erklärt haben.“

Kurz vor den Weihnachtsferien traf Ehud Loebs Antwort in der Martinschule ein. „Ich konnte aus euren Zeilen lesen, dass ihr die für mich wichtigen, tragischen Momente in meinem Leben aufgenommen, vielleicht mitgefühlt habt“, schreibt er berührt. Und Anna Stocker aus Yad Vashem setzte unter ihr Begleitschreiben ein Kompliment für Lehrerin und Kinder: „Kol Hakavot (Hut ab!) für Eure Arbeit!“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 04/2015