Versöhnung als erster Schritt Frieden beginnt mit Verzeihen: Nagelkreuzgemeinden gehen bei der Friedensarbeit voran

Von Christine Senkbeil

Die Ruine der St Michael’s Cathedral von Coventry ist heute internationale Begegnungsstätte der Versöhnung.

Foto: Andrew Walker

11.11.2018 · Coventry/Demmin. Am 14. November 1940 stand Dompropst Richard Howard vor den Trümmern der St Michael’s Cathedral von Coventry. 550 Menschen waren durch die „Operation Mondscheinsonate“ der deutschen Luftwaffe ums Leben gekommen. Doch war es nicht das Wort „Rache“, das er formte. Howard tat etwas Ungewöhnliches. Er ließ drei große Zimmermannsnägel aus dem Dachstuhl bergen und legte sie zu einem Kreuz zusammen. „FATHER FORGIVE“ ließ er dazu in die Chorwand der Ruine meißeln: „Vater vergib!“

„Das war eine große Tat von Propst Howard“, erklärt Holger Treutmann von der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland. „Er sagte nicht: Vergib IHNEN ihre Schuld. Er sprach keine Schuldzuweisung aus, sondern bat ganz allgemein: Vater vergib! Und zwar allen. Auch uns selbst. ‚Ich weiß, dass Unrecht geschieht‘, liegt darin. ‚Ich weiß, dass andere Unrecht tun – und auch ich‘.“

Dieser Geist sei der Grundgedanke der Nagelkreuzbewegung und vereine bis heute all diejenigen, die sich in die geistliche Gemeinschaft gestellt haben: 62 Nagelkreuzzentren sind es allein in Deutschland. Holger Treutmann, früher Pfarrer der Frauenkirche in Dresden und heute Sonderbeauftragter der evangelischen Kirchen beim MDR, gehört ehrenamtlich zur Leitung der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland. Und die Idee der Versöhnung ist es, die ihn dabei so fasziniert.

Der Dresdner Frauenkirche wurde am 60. Jahrestag ihrer Zerstörung das Nagelkreuz verliehen. „Diese Stadt hat durch ihre Bombardierung natürlich eine besondere Verbindung zu Coventry“, sagt Treutmann. Zur Nagelkreuzgemeinde wird jedoch keine Gemeinde „nur“ für ihre Geschichte. Das aus den symbolischen drei Ruinen-Nageln bestehende Kreuz ist eher ein Kennzeichen besonderen Engagements. Es kann bei der Nagelkreuzgemeinschaft beantragt werden – übrigens nicht nur von Kirchengemeinden –, wenn Institutionen sich für die Friedensarbeit starkmachen: vielleicht besondere Ausstellungen organisieren, Diskussionsabende oder Lesungen veranstalten. Außerdem ist das verbindende Vater-Vergib!-Gebet am Freitag um 12 Uhr zu sprechen.

Frieden machen mit dem, was geschah

„Welches Thema diese Friedensarbeit hat, kommt aber ganz darauf an, was in dem entsprechenden Ort obenauf liegt“, sagt Treutmann. So hatte Pastor Karsten Wolkenhauer ihn kürzlich nach Demmin eingeladen, um der Gemeinde dort vom Versöhnungsgedanken a la Coventry zu erzählen. „Die Stadt hat ja eine besonders schwere Geschichte mit dem Kriegsende“, sagt Treutmann. In der Nacht zum 8. Mai 1945 war es dort zu Massensuiziden von Bewohnern gekommen, zu vielen Vergewaltigungen und Morden. „Dieses Trauma liegt noch heute auf Stadt und Gemeinde, und ich habe den Eindruck, es ist an der Zeit, dass sie sich von dieser Altlast befreien kann“, sagt Wolkenhauer, der 2018 das Pfarramt übernahm.

Ein kollektives Schweigen herrschte über Jahre in Demmin. Ein Schweigen, das gebrochen werden sollte – im Sinne des Nagelkreuzgedankens. Frieden machen mit dem, was geschah. „Uber eigenes Leid reden und die eigene Schuld nicht aus dem Blick verlieren“, sagt Treutmann. So wie bei der Lesung kürzlich in Demmin über „Russenkinder“, wie der Pastor erzählt. Eine Frau rief ihn danach an. „Ich bin auch ein Russenkind, Herr Pastor“, habe sie gesagt. „Ich habe es noch nie erzählt.“ „Ich habe den Eindruck, es bricht langsam etwas auf. Darum wollen wir einen Ort anbieten, an dem man reden kann“, sagt Wolkenhauer. Auch das also ist Friedensarbeit unterm Nagelkreuz.

„Natürlich kann man niemandem befehlen zu vergeben“, sagt Treutmann. „Zugleich bleibt man sonst aber in der Opferrolle. Zu vergeben ist eine Chance, aktiv mit dem Geschehen umzugehen. Rauszukommen aus dem Tabu, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, indem man sagt: Ich gehe auf dich zu!“ „Natürlich ist es riskant. Man kann das Gesicht verlieren, wenn man sich entblößt“, sagt Treutmann. Doch dieser Neustart, die Versöhnung, sei voller Kraft. „Eine wunderbare Seelen-Hygiene.“ Auch für die kommende Friedensdekade wünscht Treutmann sich diesen Austausch, den Versöhnungsgedanken in politischen Debatten. Auch mit Personenkreisen, die andere Meinungen vertreten. „So sehe ich das Zeichen des Nagelkreuzes. Der Querbalken besteht aus zwei Nageln. Ihre Spitzen sind jeweils an den Kopf des anderen gelegt. So nehmen sie sich gegenseitig ihre Scharfe.“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 45/2018