Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs Haben wir genug gefragt?

Von Sybille Marx und epd

Im Ausschwitz-Prozess 1963 und in den Nürnberger Prozessen wurden einige der großen Kriegsverbrecher aus der NS-Zeit vor Gericht gestellt. Abgeschlossen ist die Aufarbeitung der Geschichte auch heute noch nicht.

© epd

26.01.2014 · Greifswald.

319 Stühle standen im vergangenen Oktober auf dem Anklamer Marktplatz. Leere Stühle unter freiem Himmel. Die Stadt und die Kirchengemeinde erinnerten damit an die 319 Menschen, die hier am 9. Oktober 1943 im amerikanischen Bombenhagel starben. In diesem Jahr steht Stralsund ein ähnliches Gedenken bevor: Die Bomben, die hier am 6. Oktober 1944 einschlugen, löschten das Leben von rund 800 Einwohnern aus.

In einer Vorschau auf das Jahr 2014 kündigten wir in der Kirchenzeitung diesen Jahrestag an, mit Hinweis auf einen Gedenkgottesdienst. Eine Freundin reagierte irritiert. „Es wird so viel von den Opfern unter den Deutschen geredet und so wenig von den Tätern“, sagte sie. So viele Filme und Bücher erinnerten heute an Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern. Müsse die Kirche nicht – anders als die Rechtsextremen – vor allem die Erinnerung daran wachhalten, wer den Zweiten Weltkrieg verursachte, wer die Millionen von Juden ermordete, behinderte und kranke Menschen als lebensunwert umbrachte – und dass ein ganzes Volk mehr oder weniger an diesen Verbrechen beteiligt war oder sie zumindest nicht unmöglich gemacht hat?

Über den Holocaust, der am 27. Januar wieder seinen offiziellen Gedenktag hat – wurde im Geschichtsunterricht des hessischen Gymnasiums, an dem ich lernte, viel geredet: über das unfassbare Leiden der Millionen Juden in den KZs. Über Hitlers Machtergreifung, die sich am 30. Januar nun zum 81. Mal jährt. Über die Gesetze, mit denen er schon früh das Leben ganz normaler, jüdischer Mitbürger einzuengen begann.

Die Täter, das waren dann immer die Anderen

Der Ausschwitz-Prozess im Dezember 1963, der erste große NS-Prozess vor einem deutschen Gericht, hatte die Spitze der Verbrechen weltweit bekannt gemacht. Erst vor ein paar Wochen ging er noch einmal durch die Medien. Auf der Anklagebank in Frankfurt am Main saßen damals 22 Männer: kaufmännische Angestellte und Ärzte, ein gelernter Klavierbauer, ein Kellner und ein Jurist. Sie alle wurden beschuldigt, heimtückisch und grausam in Auschwitz getötet oder wissentlich Hilfe geleistet zu haben. Mehr als 350 Zeugen, darunter 211 Auschwitz-Überlebende, schilderten an 183 Verhandlungstagen die Gräueltaten in dem Vernichtungslager. Sie berichteten von den Selektionen an der Rampe, den Gaskammern, von Folter, Erschießungen und der Ermordung von Häftlingen durch Injektionen mitten ins Herz.

Dass die Urteile der Frankfurter Richter gegen die Täter hart genug ausfielen, bezweifeln heute viele. Sicher ist: Nach diesem Prozess konnte keiner mehr die Verbrechen der Deutschen leugnen. Auch im Schulunterricht war das Gesetz. Wie ein Schatten hing über mir immer dieses Gefühl, zu einem Volk zu gehören, das sich auf unbegreifliche und nie wieder gut zu machende Art schuldig gemacht hat.

Man könnte also durchaus behaupten, wir redeten seit Jahrzehnten über die Schuld der Deutschen und damit doch auch über die Täter. Ja schon, sagt ein anderer Freund von mir, ein Historiker. Über die Schuld „der Deutschen“ sei viel geredet worden. Aber abgesehen von den Kriegsverbrecher-Prozessen so allgemein, dass es mehr einer Verdrängung gleiche als einer echten Aufarbeitung. Die Täter, das waren dann immer die Anderen. Was ist mit den Millionen Deutschen, die nicht in KZs arbeiteten, aber doch Teil des großen Ganzen waren? Wie eng und warum waren unsere eigenen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern in das menschenverachtende System der Nazis verstrickt, wo hätten sie Leid verhindern können und haben es nicht getan?

Ich habe nie zu fragen gewagt

Haben wir genug gefragt? Ich selbst habe meine Großeltern väterlicherseits nie zu fragen gewagt, welche Rolle sie im Zweiten Weltkrieg spielten. Mein Opa Rudi aus Berlin, soviel wusste ich schon als Kind, war Chauffeur. Also vielleicht der Fahrer irgendeines Nazis. Aber wen genau brachte er da durch den Großstadtverkehr? „Lass man, Rudi, det is keen schönes Thema“, sagte meine Oma stets, wenn Opa Anstalten machte, irgendeine Bemerkung über den Zweiten Weltkrieg fallen zu lassen.

Nein, es ist kein schönes Thema. Und vor allem kein leichtes. Ich habe nie zu fragen gewagt. Weil ich weder richten noch entschuldigen wollte. Aber gewusst und vor allem verstanden hätte ich vieles gern. Inzwischen leben meine Großeltern nicht mehr und ich wünsche mir oft, ich wäre mutiger gewesen. Andere waren es oder sind es jetzt. Viele Historiker- Gruppen erforschen heute anhand von Briefen, Akten und Lebensläufen, wie Hitlers Ideologie sich durch alle Lebensbereiche zog. Diese Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen ist wichtig, damit unser Gedenken nicht in Floskeln erstarrt. Die Aufarbeitung muss weiter gehen.

Dass auch über Flucht, Vertreibung und die deutschen Opfer von Bombenangriffen gesprochen wird, ist für mich kein Widerspruch. In meiner eigenen Familie ist beides eng verwoben. Meine Oma mütterlicherseits musste mit ihren Kindern 1945 aus Breslau in Schlesien vor der Roten Armee fliehen. Sie hat damit nie gehadert, aber es auch nicht verschwiegen. Es war einfach ihre Geschichte.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 04/2014