Kirchliche Familienarbeit stand in Rostock zur Diskussion Sag, wo die Familien sind...

Von Tilman Baier

Mehr als ein Defizit: Die bunte Vielfalt der Familienformen ist eine Herausforderung für die kirchliche Arbeit.

© T. Baier

23.03.2014 · Rostock. „Ganz in Familie? Überlegungen zum Familienbild und Anregungen für die Gemeindepraxis.“ Zu diesem Thema hatte am letzten Sonnabend das Zentrum Kirchlicher Dienste Mecklenburg in Rostock eingeladen. Auch wenn neben den Mitarbeitern des Zentrums nur sehr wenige Interessierte diesen „Tag der Offenen Tür“ nutzten, so gab es doch viel Bedenkenswertes zu hören: Nach einem Plädoyer für das Ernstnehmen der Vielfalt von Familienformen in der kirchlichen Arbeit durch Pastorin Margit Baumgarten vom Nordkirchenhauptbereich 5 in Kiel gab es Einsichten und Überlegungen aus der praktischen Arbeit mit Familien in Gemeinde und Beratung:

Einer Verklärung der „guten alten Zeit“ hat Martina Domann widersprochen. Oft begegneten ihr Stimmen, die beklagen, dass in vielen Gemeinden junge Familien kaum präsent seien, erzählt die Referentin für Kinder- und Jugendarbeit in der Kirchenregion Müritz. Früher dagegen, so die dann hervorgeholten Erinnerungen, waren Kinder- und Familiengottesdienste gut besucht und Familienfreizeiten gut ausgebucht. Sicher, christliche Familien waren oft genervt von staatlichem Druck mit Pionier-, FDJ- und Parteipflichtveranstaltungen. Sie kamen zusammen, geschützt im kirchlichen Raum, um sich auszutauschen, zu stärken. „Aber wenn wir genauer hinschauen, war es lange nicht überall und flächendeckend so in Mecklenburg“, betont Martina Domann.

Wichtig sei es, genau hinzuschauen, wie Familien heute „ticken“: Wie kommen sie klar mit der Organisation ihres Alltags zwischen Kita, Schule, Arbeit oder Arbeitslosigkeit? Und wie gelingt ihr die Gestaltung der Freizeit und Ferien, der Sonntage und Festtage?

Wie Familien heute ticken

Martina Domanns Bestandsaufnahme ist nüchtern: Familien haben sehr mit sich zu tun. Es wird ihnen vieles abverlangt. Leistungsdruck in Beruf und Schule hinterlässt bei den einzelnen Familienmitgliedern Spuren. Kinder wollen unterstützt und gefördert werden. Freizeit soll sinnvoll gestaltet sein mit Musikschule, Sportverein und Töpferkurs – und wenn es in der Schule nicht so läuft, mit Nachhilfeunterricht. Es müssen viele Termine und vor allem im ländlichen Raum Fahrdienste für die Kinder organisiert werden. „Es gibt Angebote, viel Anregung und Förderung. Und das ist gut so. Der Preis ist ein schon durchgeplanter Terminkalender für Kinder und ein anstrengender Alltag“, stellt sie fest. „Da sind die Wochenenden Oasen: möglichst keine Termine, möglichst keine Fremdbestimmung von außen, sondern das Besinnen auf sich selbst als Familie.“

Doch da gibt es auch die anderen Familien, „mit denen wir als Kirche weniger zu tun haben: Da sind die Kinder über lange Strecken des Tages auf sich allein gestellt, sitzen entweder vor den Bildschirmen des PC, Fernsehers oder Handys, bekommen kein selbst gekochtes Essen, laufen durch die Straßen, hängen rum, freuen sich, wenn es Jugendklubs gibt, wo sie aufgefangen werden, etwas zu essen bekommen und Beschäftigung finden.“ Auch an den Wochenenden läuft es dort nach Domanns Beobachtungen ähnlich: „Jeder kümmert sich um sich selbst. Es fällt den Erwachsenen schwer, Familienleben zu gestalten, vielleicht weil die Probleme der Eltern zu groß sind oder sie selbst nichts anderes kennengelernt haben.“

Schon lange gibt es nicht mehr nur die eine klassische Familie „Vatermutterkind“. Die Palette der familiären Lebensformen ist größer geworden. „Ich weiß nicht, ob wir als Kirche das schon immer im Blick haben. Ich weiß nicht, ob sich alle Familienformen bei uns akzeptiert fühlen. Ich wünsche es mir sehr!“, so Martina Domann. Und sie schiebt gleich eine kritische Frage hinterher: „Oder wird erlebt, dass unterschwellig doch vom überlieferten Familienbild ausgegangen wird, dass eben doch nur die vollständige Familie die richtige Familienform ist?“

Die Erwartungen, die Familien an die Gesellschaft und damit auch an Kirche haben, bilden einen Spannungsbogen: „Einerseits wollen Familien in Ruhe gelassen werden, um sich vertrauensvoll austauschen und Intimität leben zu können. Andererseits wollen Familien von Gesellschaft und Kirche in den Blick genommen und mit entsprechenden Angeboten bei der Gestaltung ihres Familienlebens unterstützt werden.“

Erhebungen aus der Praxis zeigen: Eltern brauchen seelische Unterstützung, das Gefühl, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder und für die Beziehungen in Partnerschaft und Familie. Das heißt für kirchliche Familienarbeit: Sie brauchen den Zuspruch und Vergewisserung: Gott hilft, Gott begleitet, Gott trägt mit. Familien wünschen sich, dass sie praktische Impulse bekommen, zum Beispiel für das Auswählen von Kinderbibeln, für das gemeinsame Gutenacht- Gebet oder für die Gestaltung des Sonntags und für das Einüben von Ritualen. Sie erwarten von Kirche, dass hier christlich religiöse Werte vermittelt und gelebt werden, dass Kinder seelische Nahrung bekommen, die es woanders so nicht gibt.

In der Regel haben Eltern, auch wenn sie nicht der Kirche angehören, großes Vertrauen in kirchliche Gruppen. Sie vertrauen darauf, dass ihr Kind „bei Kirchens“ gut aufgehoben ist. „Gibt es Probleme zum Beispiel bei Erziehungsfragen, kann es schon sein, dass die Gemeindepädagogin ins Vertrauen gezogen wird, die weiter hilft oder weiter vermittelt“, so die Referentin für Kinderarbeit. Sozial benachteiligte Familien freuen sich über für sie vergünstigte oder kostenlose kirchliche Angebote wie Freizeiten. Familien auf dem Land sind dankbar, wenn „Kirche im Dorf bleibt“ und kirchliche Angebote nicht auch noch mit weiten Wegen verbunden sind.

Erwartungen an die Gemeinde

Familien suchen kirchliche Angebote an den Schnittstellen des Lebens. Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung sind wichtige familiäre Höhepunkte und gleichzeitig Berührungspunkte mit Kirche. Hier sind Familien offen für Segen, Zuspruch und Gebet. Sie spüren, Gott sei Dank kann ein Teil der Verantwortung z.B. für Kinder abgegeben werden. Sie spüren, Gott kann helfen in Freude und Trauer.

Familien müssen wissen, wer ihre Ansprechperson in der Gemeinde ist und die Möglichkeit haben, sich zu informieren und Kontakt zu finden. Auch die Familienarbeit lebt von der Beziehungsarbeit, ist Martina Domann überzeugt. Und sie fordert einen deutlicheren Blick auf die Bedürfnisse von Familien in Gemeinderäumen und bei der Terminierung von Veranstaltungen.

So gebe es zum Beispiel in jeder Autobahnraststätte Kinderstühlchen und Wickeltische – warum nicht in jedem Gemeindehaus? Und kommt es Familien tatsächlich entgegen, am Sonntag um 10 Uhr oder früher Gottesdienst zu feiern? „Sollten wir ihnen nicht einen Sonntag gönnen, der mit Ausschlafen und einem ausgiebigen Frühstück beginnt? Könnte ein Familiengottesdienst nicht auch um 11.30 Uhr sein mit einem anschließenden Mittagsimbiss?“ fragt sie.

Was Gemeinden tun können

Um Familien überhaupt zu erreichen, empfiehlt die Gemeindepädagogin, die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde daraufhin zu überprüfen. Auch kleine Kirchengemeinderäte sollten Ausschüsse für Familien-, Kinder- und Jugendarbeit einrichten, in denen ehrenamtlich auch Eltern mitarbeiten können, um genau und vor Ort zu schauen, was Familien brauchen und was die Gemeinde anbieten will und auch kann. Vieles ist denkbar: Eltern-Kind-Kreise, Krabbel- oder Minigottesdienste, Tauferinnerungsgottesdienste, Vorschularbeit, Zusammenarbeit mit Kitas, Vater- Kind-Angebote, Großeltern-Enkel- Angebote, Kirchenpädagogik für und mit Familien, Offene Kinderprojekte in sozialen Brennpunkten, Familienausflüge und -freizeiten...

Festzuhalten ist aber laut Martina Domann: Ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter können immer nur einladen und unterstützen. Das Eigentliche passiert in den Familien selbst. Hier wird im Miteinanderreden, -leben und -beten Gottes Wirken, sein Begleiten und Beschützen erfahren. Hier haben Kinder prägende Berührungspunkte mit Gott. „Sie entdecken, meine Familie ist für mich da. Aber dahinter gibt es noch die ganz große Kraft, Gott. Gott ist auch für mich da und für meine Eltern.“ Das schenkt dem Kind ein Ur-Vertrauen und eine große Geborgenheit. Doch Familien entscheiden selbst, welchen Stellenwert christlich gelebter Glaube in ihrem Alltag haben soll, so die Gemeindepädagogin. „Und manchmal kommen wir dabei gut mit ihnen in Kontakt und sind mit ihnen auf dem Weg.“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 12/2014