Landesbeauftragte fordert neue Debatte über Stasi-Kontakte Pommersche Kirche in der DDR: „IM-Vergangenheit wird relativiert“

Welches Bild von ehemaligen Leitenden in der Pommerschen Kirche ist hängen geblieben? Im Bild: der ehemalige Konsistorialrat Hans-Martin Harder vor einem Ölgemälde, das Alt-Bischof Horst Gienke zeigt.

Foto: Archiv/kiz

18.10.2015 · Greifswald. Der ehemalige Superintendent von Grimmen, Siegfried Bohl, wurde von der Stasi als IM geführt. Das hat die Kirchenzeitung vor kurzem in einem Nachruf auf ihn erwähnt. Empörung und viele Fragen hat das ausgelöst: Wie eng verstrickt mit Staat und Stasi waren pommersche Pastoren und die Kirchenleitung zu DDR-Zeiten? Und müssen wir darüber wirklich noch sprechen? Die Kirchenzeitung bat Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in MV, um ihre Einschätzung.

Sybille Marx: Frau Drescher, die Erwähnung, dass ein „verdienter kirchlicher Mitarbeiter“ Gespräche mit der Stasi und der SED geführt hat, gehöre nicht in einen Nachruf, außerdem tue man Herrn Bohl damit Unrecht, hat uns ein Leserbriefschreiber erklärt. Wie sehen Sie das?

Anne Drescher: Die Formulierung im Nachruf war sehr freundlich formuliert, Sie sprachen von „Kontakten“ und das war wirklich das Mindeste, was man sagen musste. Aber ich möchte nicht den Nachruf kommentieren. Was mich irritiert, sind die Reaktionen darauf. Was hier geschieht, passiert ja nicht nur in Kirchenkreisen, sondern praktisch überall in solchen Situationen: dass die IM-Vergangenheit relativiert wird, dass vieles verharmlost wird und Fakten verdreht werden. Unkenntnis, Halbwissen, Verharmlosung auch von denjenigen, die sich dazu beispielsweise in Leserbriefen äußern. Ich habe den Eindruck, wir stehen in Sachen Aufarbeitung praktisch wieder bei Null, wie 1989!

Herr Bohl und mehrere andere Mitglieder der pommerschen Kirchenleitung, die von der Stasi als IM geführt wurden, haben ja nie eine Verpflichtungserklärung unterschrieben. Nach eigenen Aussagen wussten sie deshalb gar nicht, dass sie als IM betrachtet wurden.

Ja, auch das ist die übliche reflexhafte Antwort auf die Konfrontation mit dem Stasi-Thema. Dazu gehört auch der Satz: „Ich habe doch keinem geschadet.“ Die Kriterien, ob jemand Inoffizieller Mitarbeiter war oder nicht, sind aber klar definiert. Da spielt es keine Rolle, ob er anderen geschadet oder eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hat. In der Regel unterschrieben die IM eine Verpflichtungserklärung. In bestimmten Fällen und das betraf gerade die kirchlichen Mitarbeiter, nahm man von einer schriftlichen Verpflichtung aber Abstand, verständigte sich mit Handschlag oder verzichtete ganz auf diese Form. Auch die Art und Form der Berichte ist kein Kriterium einer Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Das konnten selbst gefertigte schriftliche Berichte sein, Gesprächsmitschriften der Führungsoffiziere oder auf Tonband gesprochene Berichte. Ebenso irrelevant ist die Frage, ob man Kenntnis von seiner IM-Registrierung hatte. Der Begriff des Inoffiziellen Mitarbeiters war in der DDR nicht geläufig, Spitzel dagegen schon.

Und aus den Stasi-Akten ist ersichtlich, dass sich das MfS als solches seinen Gesprächspartnern zu erkennen gegeben hat. Die Inoffiziellen Mitarbeiter wie Siegfried Bohl (IM „Titus“), Hans-Martin Harder (IM „Dr. Winzer“), Siegfried Plath (IM „Hiller“), Christoph Ehricht (IM „Ingolf Seidel“), Bischof Gienke (IM „Orion“) wussten also, mit wem sie sprechen.

Der frühere Propst der pommerschen Kirche, Friedrich Harder, hat neulich bei der Ruhestandsverabschiedung für Christoph Ehricht gegenüber der Kirchenzeitung erklärt: Die Führungsoffiziere der Stasi hätten unter Erfolgsdruck gestanden und deshalb Kirchenleitende einfach zu IM erklärt und so getan, als hätten die ihnen brisante Informationen zugespielt. Kann man das Gegenteil beweisen?

Ja, das ist aus den Akten ersichtlich. Man darf nicht übersehen, dass das Ministerium für Staatssicherheit ein sehr bürokratischer Apparat war. Die Anwerbung kirchlicher Mitarbeiter und ihre Steuerung waren in Direktiven penibel geregelt. Eine IM-Akte konnte nicht einfach so angelegt werden.

Aber ob ein IM Schaden angerichtet hat oder nicht – warum finden Sie das nebensächlich?

Das finde ich nicht nebensächlich. Aber kein IM konnte darüber befinden, was mit seinen angeblich harmlosen Informationen geschieht. Nur ein Beispiel: Nehmen Sie die scheinbar belanglose Auskunft, dass die Nachbarin jeden Mittwoch zur Chorprobe geht. An einem solchen Mittwoch wurde durch das MfS in ihrer Abwesenheit illegal die Wohnung durchsucht. Oft ergaben auch erst die Berichte verschiedener IM ein Bild und die Gelegenheit für die Stasi, gegen Betroffene vorzugehen. Ausschlaggebend ist: Es sind Informationen geflossen, aus denen die Stasi Strategien entwickeln konnte. Die wiederum konnten Menschen schaden.

Hatten Mitglieder der pommerschen Kirchenleitung denn eine Wahl, hätten sie sagen können: Wir reden einfach gar nicht mit der SED und der Stasi?

Offizielle Gesprächspartner für kirchliche Fragen waren die Referenten für Kirchenfragen auf Kreis- und Bezirksebene – nicht die SED oder das MfS. Niemand hatte die Erlaubnis, geschweige denn den Auftrag, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zu verhandeln. Jeder Theologiestudent hörte das bereits in seiner Ausbildung: „Keine Gespräche mit der Stasi.“ Einziger Grund für Verhandlungen mit diesem MfS konnten humanitäre Ziele sein, beispielsweise der Einsatz für Inhaftierte.

Warum lassen Sie das Buch „Der Greifswalder Weg“ jetzt überarbeiten und neu auflegen, also jene Monographie, in der die Historikerin Rahel von Saß 1998 das Verhältnis der pommerschen Kirchenleitung zur SED und zur Stasi beleuchtete und auch einzelne IM schilderte?

Das Buch ist seit einigen Jahren vergriffen, wir haben aber immer wieder Nachfragen. In dem Buch werden die Verflechtungen mit dem Ministerium für Staatssicherheit klar benannt, es wird nichts relativiert. Gerade aus dem Bereich der pommerschen Kirche wurden wir vielfach angefragt, weil heute in den Debatten mit so viel Halbwissen um sich geworfen wird. Das zeigt mir: Es ist nach wie vor ein wichtiges Buch!

Ich habe gerade wieder gehört, diese Monographie sei zu einseitig, sie tue der pommerschen Kirchenleitung und ihren angeblichen oder tatsächlichen IM Unrecht.

Ja, seit Erscheinen wird die Publikation kritisiert. Einige wenige Fehler, die wir jetzt in der Nachauflage überarbeiten, werden als Kriterium genommen, um die gesamte Darstellung und wissenschaftliche Gründlichkeit in Frage zu stellen. Es schmerzt sicherlich, bestimmte Sachverhalte so deutlich gesagt zu bekommen. Die MfS-Akten sind aber eine bedeutende historische Quelle zur Wahrheitsfindung, die wir gegen die Muster der Verdrängung, Leugnung und Verharmlosung stellen müssen, wenn wir uns mit der Aufarbeitung befassen wollen.

Was muss noch passieren, damit Aufarbeitung gelingt, vielleicht sogar Wunden heilen und neues Vertrauen wächst?

Entscheidend ist, dass wir den Perspektivwechsel vollziehen. Die Landeskirche sollte zuerst denjenigen danken, die in der DDR mutig widerstanden haben, ohne einen Pakt mit der Stasi einzugehen, die verfolgt, zersetzt und an der Verwirklichung ihrer beruflichen Karriere gehindert wurden. Ich denke da zum Beispiel an den Grimmener Pastor Wenzel und seine Frau, die trotz Überwachung und Bespitzelung eine aktive evangelische Jugendarbeit ermöglicht haben. Wenn dieser Dank geschehen ist, dann kann man auch einen bescheidenen Abschiedsempfang geben für einen Konsistorialrat, der sich damals für einen anderen Weg entschieden hatte. Umgekehrt finde ich es sehr problematisch.

Wenn wir von Aufarbeitung und Versöhnung sprechen, müssen wir zuerst von Schuld sprechen und das ist bisher nicht in dem erforderlichen Maße geschehen. Der Schaden für die Kirche ist immens. Um wieder Vertrauen zu gewinnen, muss sich die Kirchenleitung den Opfern zuwenden. Dabei biete ich gern meine Unterstützung an. Jede Relativierung und Verharmlosung der Stasi-Tätigkeit der Mitarbeiter der Landeskirche ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die sich den Anwerbeversuchen der Stasi wiedersetzt haben und politische Verfolgung erleben mussten.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 42/2015