"Die Stasi kam mit der Straßenbahn" Vor 25 Jahren fand der letzte evangelische Kirchentag in der DDR statt

Von Karl-Heinz Baum

Kirchentag in Leipzig 1989

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08.07.2014 · Leipzig. Demokratie, Freiheit, Proteste und die Zukunft des Landes: Auch diese Themen haben vor 25 Jahren den letzten evangelischen Kirchentag in der DDR beschäftigt. Eine nicht unwichtige Nebenrolle spielte dabei eine leere Straßenbahn.

Die DDR-Opposition sollte draußen bleiben: Auf hartes Drängen der SED hatte die evangelische Kirchenleitung oppositionelle Gruppen nicht zum offiziellen Programm des Leipziger Kirchentags vom 6. bis 9. Juli 1989 zugelassen. Sie nannten ihre Zusammenkunft deshalb "Statt-Kirchentag", gingen in die Lukaskirche des Pfarrers Christoph Wonneberger im damals ziemlich verfallenen Stadtteil Volkmarsdorf, weitab von der Innenstadt. Auf der offiziellen Abschlusskundgebung durfte keiner aus diesem Kreis reden.

So standen sie stumm unter 40.000 Besuchern und hielten ein Transparent hoch: "Demokratie" stand dort auf Deutsch und Chinesisch, so erinnerten sie zugleich an das Massaker vom 4. Juni in Peking. Dann wagten sie mit dem Transparent an der Spitze den Weg zum Markt. Gut 500 Leute schlossen sich an. Das störte den "VEB  Horch und Guck", wie viele Menschen die Staatssicherheit spöttisch nannten. Die Stasi wollte das Transparent an sich nehmen - aber wie? Gäste von nah und fern und Westjournalisten begleiteten den Protestzug. So kamen die Geheimdienstler auf eine, wie sie womöglich meinten, geniale Idee, die zur absurden Abwehraktion wurde.

Auf der Karl-Liebknecht-Straße kam dem Demonstrationszug eine Straßenbahn entgegen. Ungewöhnlich nur, dass sie auf Höhe des Protestzuges hielt. Eine Tür öffnete sich, heraus stürzten Stasi-Leute, entrissen das Transparent und verschwanden in der zuvor beschlagnahmten Bahn. Wenige Meter weiter blockierten Polizisten den Weg zur Stadt, so drehten die Demonstranten rechts ab zur Peterskirche. Dort beteten sie, besprachen weitere Schritte, unter anderem, ob sie nicht eine SPD gründen sollten. Das wäre die direkte Kampfansage an die SED, denn nichts hasste die Sozialistische Einheitspartei mehr als "Sozialdemokratismus".

Womöglich war für diese Überlegungen auch ein Gast des Kirchentags mitverantwortlich, der westdeutsche SPD-Politiker Erhard Eppler. Er hatte drei Wochen zuvor am 17. Juni, damals Feiertag in der Bundesrepublik, für den die Ostdeutschen mit dem Volksaufstand 1953 gesorgt hatten, im Bundestag einen Abgesang auf die SED gehalten: Sie wolle sich nicht an Gorbatschows Reformen beteiligen, hatte er angemerkt. Doch befinde sie sich auf schmelzendem Eis. Wer sich da nicht bewege, werde dem kalten Wasser nicht entkommen.

Wie weiter mit der DDR? Wie steht es um ihre Identität? Wie erreichen wir mehr Freiheit? Das waren die Themen beim Leipziger Christentreffen in Predigten, Bibelarbeiten, Podiumsdiskussionen. Eppler kam auch zu den Friedens- und Menschenrechtsgruppen in der Lukaskirche, zu den Oppositionellen, die sich laut Kirchenleitung "selbst ausgegrenzt" hatten. Dort diskutierte man, wie das von Gorbatschow angeregte "Europäische Haus" aussehen sollte. Der "Rentner und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission", wie sich der ehemalige Bundesminister vorstellte, sagte, ein "Europäisches Haus" werde es nur geben, wenn man sich vorher über die Hausordnung einige. Da dürfe es Ereignisse wie jüngst in China nicht geben. Nicht einmal Prügel dürfe die Hausordnung zulassen. Und jeder müsse jeden im Haus besuchen können.

Ins Schwitzen kam Eppler, als es um die Wohnung der durch eine "dicke Wand", gemeint war die Mauer, getrennten Deutschen ging. Er warnte: Schon das Philosophieren über "die Wand" könnte die Lust anderer Europäer am Haus schmälern. Darüber wollten sie alle mitreden. Der Mathematiker Ludwig Mehlhorn wandte ein, bevor man über die Wand rede, müsse man sich klar sein, was man wolle: Demokratisierung des Staates oder dessen Abschaffung, wie es viele Ausreisewillige anstrebten. Eppler erinnerte daran, dass auch der Sozialismus einmal mehr und nicht weniger Freiheit gewollt habe. Eines aber gehe nicht, nämlich innere Demokratisierung und zugleich Abschaffung der DDR zu betreiben. Die Folge könnten Existenzängste der Systemanhänger sein, die dann Demokratisierung verhinderten und Glasnost und Perestroika nur noch im Schneckentempo zuließen.

Von diesem Treffen reisten fast alle mit neuem Mut und neuen Hoffnungen nach Hause. Sie merkten, dass Zehntausende, Hunderttausende, wenn nicht Millionen anders dachten als die DDR-Staatsführung ihnen Tag für Tag weiszumachen suchte.

Quelle: epd