Unser Mann in Florenz Ruhestandspastor Henry Lohse arbeitete für sechs Monate in einer deutschen Gemeinde in Italien

Von Claudia Lohse- Jarchow

Angekommen in Florenz: Henry Lohse. Die Gemeinde ist von ihm begeistert: „Er wäscht sogar ab!“

Foto: Raymond Jarchow

27.07.2014 · Florenz. Braun gebrannt wie ein Urlauber und doch im Dienst: Henry Lohse, ehemaliger Pastor in Loitz und Rostock, hat das Experiment „Vertretungspastor in Florenz“ angenommen. Seine Tochter Claudia Lohse- Jarchow und ihr Ehemann Raymond Jarchow aus Greifswald besuchten ihn und die Gemeinde. Claudia Lohse- Jarchow erzählt von einem religiösen Nischenleben, das Erinnerungen an die DDR-Zeit weckt:

Als wir am Montagabend, ein letztes Mal während unserer Florenz-Reise zu meinem Vater kommen, treffen wir einen unglaublich entspannten Mann, der aussieht wie auf Urlaub. Aber das ist er nicht. Mein Vater Henry Lohse, gerade 65 Jahre alt geworden, Pastor im Ruhestand, ist seit Januar für ein halbes Jahr Pfarrer der Chiesa Evangelica Luterana Firenze, der Evangelisch- Lutherischen Gemeinde in Florenz. Bis September 2012 war er Pastor der Rostocker Innenstadtgemeinde (27 Jahre lang), vorher Pastor in der vorpommerschen Kleinstadt Loitz.

In Latschen und kurzen Hosen steht er da, braungebrannt, in der Küche seiner kleinen Wohnung, die früher der Concierge des 500 Jahre alten Palazzos vorbehalten war. Schattig ist es und kühl auf den schwarz-roten Fliesen, die ein Sternenmuster bilden. Es riecht nach Holz und den Jahrhunderten, nach Knoblauch, Rosmarin und gutem Geist. Draußen im Garten scheint eine italienisch helle und sehr warme Junisonne.

Ein Zufall brachte meinen Vater hierher, in die Florentiner Gemeinde. Auf einer Reise nach Südtirol im Spätherbst 2013 besuchte er Marcus Friedrich, einen Freund der Familie, zurzeit Pastor der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde in Bozen. Zufällig waren eben Ulrich Tetzlaff, Personalchef der Nordkirche, und Holger Milkau, damaliger Dekan der Evangelisch- Lutherischen Kirche Italiens (ELKI), ab 1. August Pfarrer an der Dresdner Kreuzkirche, zur Visitation in Bozen zu Gast. Der Dekan suchte händeringend eine sechsmonatige Überbrückung für die Pfarrstelle in Florenz, deren Vertretung gerade gescheitert war. Vermittelt durch Ulrich Tetzlaff erreichte die Anfrage meinen etwas überrumpelten Vater nach dem Gottesdienst in Bozen.

Die Gemeinde hat eine Fläche wie die Schweiz, aber nur 250 Mitglieder

Nun ist er hier, in Florenz, mit allem Drum und Dran, mit all seinen Erfahrungen und der pfarramtlichen Routine von über 40 Dienstjahren. Nun ist er hier, allein in einem fremden Land, umgeben von einer nahezu unbekannten Sprache und unvertrauten kirchlichen Strukturen. Das Gemeindegebiet, für das er zuständig ist, reicht von Modena im Norden bis an den Lago Trasimeno im Süden und vom Ligurischen Meer im Westen bis zur Adria im Osten.

Das ist eine Fläche so groß wie die Schweiz, jedoch mit einer Mitgliederzahl von 250 evangelisch-lutherischen Christinnen und Christen. Hinzu kommen die Touristen, die das ganze Jahr über das Gesicht der Stadt am Arno prägen und während ihres Aufenthaltes immer wieder auch den Kontakt zur Gemeinde suchen. Öfter kommen Trauanfragen von Deutschen, die den Wunsch haben, in Italien zu heiraten. So auch vom Ribnitzer Pastor Christoph Strube, der nicht schlecht staunte, als seine E-Mail-Anfrage nach Florenz vom mecklenburgischen Kollegen Henry Lohse beantwortet wurde. Mein Vater traute ihn und seine Frau im April in Florenz. Danach tanzte das Paar Tango im Park vor der Kirche. Davon schwärmt die Küsterin, Frau Andreini, noch immer.

Anders als in Deutschland sind die zwölf Kirchengemeinden der ELKI als Vereine organisiert. Das birgt sowohl mehr Spielräume als auch mehr Risiken. So können beispielsweise auch Menschen anderer Konfessionen zur Gemeinde gehören. Zugleich aber liegt die Deckung des Haushaltes – abgesehen von der Finanzierung der Pfarrstelle und dem Zuschuss „otto per mille“ (acht Promille) aus staatlichen Steuermitteln – eben auch auf den Schultern der Gemeinde.

Manches ist der Arbeit in Rostock vergleichbar, anderes nicht. So macht mein Vater hier wie dort zahlreiche Besuche, führt Gespräche und steht als Seelsorger zur Verfügung, wie er es immer getan hat. Verwaltung und Bauaufgaben hingegen liegen bei der ELKI ganz in der Hand des Kirchenvorstandes. Vielleicht scheint mir deshalb die Last des Amtes weniger schwer auf meinem Pastorenvater zu liegen, obgleich er hier nicht weniger gewissenhaft arbeitet als in Mecklenburg. Neben seinen Pastorenpflichten findet er Zeit für Gäste aus der Heimat, Konzerte, Ausstellungen und Briefeschreiben, doch er ist wie immer Pastor rund um die Uhr.

Er besucht Menschen im ganzen Gemeindegebiet, hält Gottesdienste in Florenz, Pisa und Bologna, er traut und tauft, er leitet den Frauenkreis, das Herzstück der Gemeinde, singt im Chor unter italienischer Leitung, trifft sich mit Gremien und Konventen. Nebenbei lernt er die Landessprache und mit den Wankelmütigkeiten italienischer Strom-, Warmwasser- und Internetleitungen umzugehen.

„Er wäscht sogar ab!“

Die Gemeinde ist offenbar erfreut: „Ihr Vater wäscht sogar ab!“, ruft man mir strahlend zu. Allerorten begegnen mir Lob und Dankbarkeit für seine Präsenz und Verbindlichkeit. Aber auch, wenn er zu sehr durch die „deutsche Brille“ schauend predigt, wird ihm das rückgemeldet. Nach einem Gottesdienst zum Beispiel, in dem er von der guten Absicherung der Jugend sprach, wurde ihm die Situation in Italien als ganz anders beschrieben. Im Land herrschen besorgniserregende 43 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, die den Blick auf Zukunftschancen der Jugendlichen nachhaltig mitbestimmen. Beides, Würdigung und mündige Kritik, scheinen mir wichtige Qualitätsmerkmale der guten Beziehung zwischen der Gemeinde und ihrem Vertretungspastor zu sein.

Die Lutherischen Christen in Italien sind vor allem Menschen deutscher Herkunft und deren Kinder. Viele Gemeindeglieder sind deutsche Frauen, die Italiener geheiratet haben. In der Gemeinde bewahren sie sich in einem tragfähigen Netz aus gemeinsamer Sprache, vergleichbaren Erfahrungen, hilfreichen Beziehungen und miteinander gelebter Religiosität ein Stück Heimat in der Fremde.

Und doch ist diese Fremde für die meisten ein zu Hause geworden, das sie nicht wieder verlassen möchten. So mischen sich in die Gespräche nach dem Gottesdienst, beim Chor oder im Frauenkreis immer wieder italienische Sprachfetzen. Faszinierend und offen, lebendig, vielgestaltig und doch konkret und vor allem konsequent gemeinschaftlich erlebe ich dieses Miteinander.

Erinnerungen an die DDR-Zeit

In der Reflektion zwischen Vater und Tochter stellen wir fest, dass es sich hier ein bisschen vertraut nach den kirchlichen Verhältnissen in der DDR anfühlt. Dieses religiöse Leben in einer Nische fordert und ermöglicht hier wie damals eine eigene und verbindende Haltung in besonderer Weise. Es braucht Bekenntnis ebenso wie den Mut zur Unbequemlichkeit. Vielleicht äußert sich dieser Mut in langen Anfahrtswegen zum nächsten Gottesdienst. Doch mitunter braucht man ihn auch gegen Widerstände in zumeist katholischen Familien oder gegen die Bitterkeit des Verbotes eines gemeinsamen Abendmahls.

Neben der Gemeinde selbst liegt der Schwerpunkt der Arbeit in den Lutherischen Gemeinden Italiens vor allem in der Pflege der Ökumenischen Kontakte vor Ort. In Florenz besteht eine fruchtbare Beziehung zur Reformierten Gemeinde, die als Mieter mit ihren Gottesdiensten und Veranstaltungen die Lutherische Kirche nutzt. Ein lebendiger Austausch besteht ebenso mit den vielen anderen nicht-katholischen Glaubensgemeinschaften wie den Baptisten, Methodisten, Waldensern, Neuapostolischen Christen, Anglikanern und der Heilsarmee. Einmal im Monat trifft man sich zum Konvent.

Doch auch mit den Katholischen Ortsgemeinden steht die Lutherische Gemeinde in Verbindung. Dieser Umstand beschert mir ein besonderes Erlebnis: Am Pfingstsonntag begleite ich meinen Vater zum Ökumenischen Friedensgebet. In knapp zwei Stunden predigen sieben Frauen und Männer verschiedener Konfessionen leidenschaftlich vom Heiligen Geist. Wir singen in Italienisch und Englisch von seiner Kraft und beten darum, dass sie uns bewegen möge. Am Ende begegne ich dem Florentiner Domprediger, einem hoch betagten katholischen Geistlichen amerikanischer Herkunft, der seit 60 Jahren in Italien lebt. Wir sprechen über den Traum von der gemeinsam gefeierten Eucharistie. Er zeichnet mir ein Kreuz auf die Stirn. „God Bless You.“

Bald endet die Italien-Zeit meines Vaters. Er hat die Gemeinde im Bewerbungsprozess für die Neubesetzung ihrer Pfarrstelle begleitet. Nach der Sommerpause, im September beginnt ein Pastorenehepaar aus Württemberg seinen Dienst. Wenn mein Vater nach Florenz zurückkehren wird, dann als Besucher. Es zeichnet sich ab, dass dieser Besuch nicht lange auf sich warten lassen wird. Die Beziehungen zu vielen Menschen hier werden bleiben, so Gott will und wir leben.

Als wir nach dem Essen und langen Gesprächen in den Hof gehen, um noch ein Portraitfoto für die Kirchenzeitung zu machen, jagen Schwalben einander zwischen den rostroten Wänden des Renaissancebaus. Der Himmel ist sattblau und zum Horizont hin durchsichtig. Gerade ist die Sonne verschwunden. Welch ein Glück, hier zu sein.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 30/2014