RückblickStudienreise im September 2016 nach St. Petersburg

Die Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte führte im September 2016 eine Studienreise und eine wissenschaftliche Konferenz in St. Petersburg durch.
Dr. Arvid Hansmann war einer der Teilnehmenden an dieser Reise und hat einen inhaltsreichen Bericht geschrieben, bereichert durch einige seiner Fotos (durch Klick vergrößerbar), lesen können:

Lutherische Kirche in Russland?

Man sagt Moskau nach, das „Herz“ Russlands zu sein. Gleichzeitig versteht sich St. Petersburg auch heute noch inoffiziell als „Haupt“ des Riesenreiches. Das Bild der Stadt ist von einer steten Wechselwirkung geprägt: Aufbruch und Verharren; Revolution und Konservatismus prallen in dieser Metropole aufeinander. Zar Peter I. brachte mit der Neugründung 1703 seine umfassende Staatsreform zum Ausdruck. Als „Tor zum Westen“ sollte sich die Stadt im verschlungenen Delta der Newa in ihrer architektonischen Erscheinung von den altrussischen Traditionen lösen. Barock und Klassizismus dominierten bis ins 19. Jahrhundert die geradlinig angelegten Straßen. Doch insbesondere im Kirchenbau zeigt sich, wie schwer es war und ist, gegenüber der Tradition zu bestehen. Der Kontrast zwischen den klassizistischen Kolonaden der Kasaner Kathedrale (1801-11) und der nur wenige hundert Meter entfernten „Blutkirche“ (1883-1912), die sich deutlich an der Moskauer Basilius-Kathedrale orientiert, könnte kaum größer sein. Während letztere als ein besonderer Touristenmagnet fungiert, zeigt gerade erstere heute das lebendige Bild des russisch-orthodoxen Glaubens. In Sowjetzeiten zynisch zum „Museum für Religion und Atheismus“ deklariert, wird ihr Inneres seit den 1990er Jahren von einer Vielzahl von Ikonen eingenommen, die in ihrer dogmatischen Gestaltung mit den ursprünglichen Heiligengemälden westlicher Prägung konkurrieren.

Die bis in die römisch-byzantinische Zeit zurückreichende Verbindung von Staat und Kirche kommt in der Verehrung zum Ausdruck, die hier dem Grab des Feldmarschalls Kutusow (1745-1813) zuteil wird, der durch seine Siege über Napoleon einen vergleichbaren Status wie der legendäre Nationalheilige Alexander Newski (um 1220-1263) erreicht hat.

 

Den Weg zwischen den beiden Kirchen kreuzt die scheinbar endlose Einkaufsmeile des Newski-Prospekts. Mit der armenischen und der katholischen Kirche befinden sich hier, wenn auch aus der ersten Reihe etwas zurückgesetzt, an prominenter Stelle Bauten anderer Konfessionen. Dazu zählt auch der Komplex der 1833-38 errichteten lutherischen St.-Petri-Kirche. Sie ist heute Bischofskirche der „Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien“ (ELKRAS).

 

Insbesondere für einen wissenschaftlichen, wie persönlichen Austausch mit Vertretern der Kirchengemeinde hatte die „Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte“ vom 15. bis 20. September 2016 eine Exkursion nach St. Petersburg durchgeführt. Dabei trafen hier neben Historikern und Theologen auch Vertreter der Kirchenleitung der Nordkirche sowie aus deren „Basis“ Gemeinde- und Sozialarbeiter zusammen. Organsiert und Geleitet wurde die Reise von Oberkirchenrat i.R. Dr. Christoph Ehricht, der von 1999 bis 2002 im Rahmen einer EKD-Auslandspfarrstelle Pastor der Petri- und Annengemeinde/ Gemeinde war.

Sein indirekter Amtsnachfolger Propst Michael Schwarzkopf legte bereits am ersten Begrüßungsabend die komplexe Situation der lutherischen Kirche bzw. der protestantischen Kirchen in Russland allgemein dar. So gibt es heute im Wesentlichen zwei Hauptstrukturen, die das lutherische Gemeindeleben in Russland bestimmen. Dabei ist die „Evangelisch-Lutherische Kirche des Ingermanlandes in Russland“ (ELKIR) rein zahlenmäßig die größte. Sie geht auf die finno-ugrischen Bewohner des Newa-Gebietes zurück, die bereits im 16. Jahrhundert durch die Reformation beeinflusst wurden. Auch wenn sie sich heute nicht mehr rein ethnisch definiert, so ist sie doch stark von dem Selbstbewusstsein geprägt, eine bzw. sogar die „lutherische Nationalkirche“ Russlands zu bilden.

Demgegenüber geht die ELKRAS auf die deutschen Immigranten zurück, die bereits unter Iwan IV. (dem „Schrecklichen“, 1530-1584) und dann unter Peter I. und seinen Nachfolgern als Fachleute für den Bau und die Entwicklung der neuen Hauptstadt in das Land kamen. Diese „nationale“ Zuweisung, sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der heutigen Situation war eines der Hauptdiskussionspunkte einer wissenschaftlichen Tagung, an der der neben Kirchenvertretern auch Historiker der Staatlichen Universität St. Petersburg teilnahmen.

 

Der konsequent zweisprachig abgehaltene Sonntagsgottesdienst, bei dem der Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern, Dr. Hans-Jürgen Abromeit, als Exkursionsteilnehmer Grußworte der Nordkirche überbrachte, fand im großen Saal der St. Petri-Kirche statt. Von der tragisch-bewegten Geschichte des Baus sowie der Gemeinde zeugen heute noch die ungewöhnlichen Seitenemporen: Es sind die Zuschauerränge eines in den 1960er Jahren eingebauten Schwimmbades, dessen Stahlbetonkonstruktion die historischen Kellergewölbe sprengt und in den 1990er Jahren vom heutigen Fußboden geschlossen wurde. An den Kellerwänden geben großformatige Malereien das schwere Schicksal der Gemeinde während der Stalinherrschaft wieder, das von Deportation und Zwangsarbeit in Sibirien gekennzeichnet war und doch den Glauben als einen gemeinsamen gemeinschaftsstiftenden Halt nie aus den Augen verlor.

Das heutige Leben der lutherischen Gemeinde macht deutlich, dass in der pulsierenden Metropole eine lebendige kulturelle und religiöse Vielfalt akzeptiert wird. Ob dies ein Ausdruck (oder auch eine Option) des vieldiskutierten Begriffs der „Integration“ ist, blieb manchem Exkursionsteilnehmer unausgesprochen als offene Frage zurück. Die Einheit der „starken Nation“ und der orthodoxen Kirche scheint nur wenig Spielraum für Alternativen zu geben. St. Petersburg stellte sich hierbei als ein kommerzialisierter Ausdruck eines Geschichtsbildes dar, dass die Zarenzeit zu einer glanzvollen Epoche erhebt.

 

Ein von den Exkursionsteilnehmern mehrfach angesteuertes Beispiel für ein durchaus kreatives Konstrukt merkantiler Nationalgedanken stellt die Schnellrestaurantkette „Teremok“ dar. Hier gibt es Borschtsch und Blini (gefüllte Eierkuchen/Crêpes) statt Pommes und Burger; Kwas statt Cola. Die Produkte tragen Namen historischer Helden und es dudeln digitalisierte Volksliedmelodien durch die freundlich-diskreten Räume. Quasi das IKEA-„Du“ konterkarierend, werden die Kunden mit bewusst antiquiert-noblen Anredeformen begrüßt.

 

Es sind heute neben Einheimischen vor allem Iraner und Chinesen, die mit dem „Selfie-Stick“ als Grundausstattung durch die schier endlosen Säle der Ermitage und die perfekt arrangierten Gärten der kaiserlichen Sommerresidenzen drängen und dabei mehr oder minder bewusst die goldenen Zwiebelkuppeln über den Palastkirchen als einen integralen Bestanteil der herrschaftlichen Gesamtensembles wahrnehmen.

 

Wenn einige der Exkursionsteilnehmer mit Erschrecken miterlebten, wie eine klassische „Schwanensee“-Inszenierung vom vorrangig ostasiatischen Publikum mit Getränk und Popcorn konsumiert wurde, so mochten sich andere zunächst bei einem exklusiven Kammerkonzert im barocken Stadtpalast des Dichters Gawriil Derschawin (1743-1816) besser aufgehoben gefühlt haben. Faktisch war auch dies vorrangig an ein zahlungskräftigeres „westliches“ Publikum gerichtet, dem man mit Champagner und bilingualer Höflichkeit begegnete und dabei den einen oder anderen Businessman mit herausgeputzter weiblicher Begleitung dezent bat, die Jacke doch lieber an der Garderobe abzugeben, als sie über den Stuhl zu hängen. Wenn dieser dann anhaltend die Smartphone-Kamera auf ein tastenwirbelndes Wunderkind am Flügel richtete, so mochte er sich, auch wenn in diesem faszinierenden Reigen Rachmaninows berühmtes Prelude Op. 23 Nr. 5 nicht erklang, in ein imaginiertes „altes Russland“ zurückversetzen – das jedoch auf den Kinobildern von David Lean basiert, der aus diesem Szenario einen renommierten Mediziner mit seinem jungen Assistenten Yuri Schiwago zu einem diskreten Notfall herausrufen lässt.

Dass die Fiktion am Ende prägender als die „historische Realität“ ist, hatte bereits Sergej Eisenstein in seinem opulenten Werk „Oktober“ (1927) gezeigt, das die Exkursionsteilnehmer nun mit anderen Augen sehen, wenn sie die markanten Punkte der Riesenstadt St. Petersburg wiedererkennen und sich in den Blick auf das Jahr 2017 zur Reformation noch ein anderes Jubiläum reiht …

 

Arvid Hansmann

 

Das war das Programm

Donnerstag, 15.9.2016

10.45 Uhr Abflug Berlin Schönefeld SU 6642
14.10 Uhr Ankunft St. Petersburg Flughafen Pulkovo, Transfer zum Hotel Dostojewski
20.00 Uhr Begrüßungsabend 

Freitag, 16.9.2016
10.00 – 16.00 Uhr Stadtführung „Das historische und das evangelische Petersburg“
Abend frei 

Sonnabend, 17.9.2016
10.00 – 17.00 Uhr Wissenschaftliche Konferenz in der Petrikirche
Leitung: Prof. Andrei Prokopiev/St. Petersburg und Prof. Werner Buchholz /Greifswald
„Auswirkungen der Reformation auf Russland – Präsentation und Diskussion aktueller Forschungsergebnisse Petersburger Wissenschaftler“

Sonntag,18.9.2016
10.30 Uhr Evangelischer Gottesdienst in der Petrikirche
Predigt: Propst Michael Schwarzkopf / St. Petersburg
anschließend Begegnung mit der Gemeinde
Nachmittag und Abend frei 

Montag, 19.9.2016
Ganztägige Exkursion nach Zarskoje Selo und Peterhof 

Dienstag, 20.9.2016
Transfer zum Flughafen
08.15 Abflug St. Petersburg
09.55 Ankunft Berlin-Schönefeld