Peenemünde schleppt schwer an seiner Vergangenheit Die Toten unterm Nagelkreuz

Von Christine Senkbeil

Das Museumsgelände des Historisch Technischen Museums in Peenemünde. Hier wurden die V-Waffen entwickelt. Rechts: Das Nagelkreuz in der Kirche Karlshagen.

Foto: HTM/(Nagelkreuz) Danny Lange

17.08.2014 · Peenemünde. In der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 fielen Bomben auf Peenemünde und Karlshagen. Die Heeresversuchsanstalt sollte getroffen werden. Zivilisten, Wissenschaftler, Zwangsarbeiter starben. Auch die Karlshagener Kirche fiel. Doch in dieser Zeit und an diesem Ort nahm auch der Mondflug seinen Anfang. Das Historisch-Technische Museum (HTM) Peenemünde zeigt detailliert die Zwiespältigkeit der Vergangenheit. Und auch die Kirchengemeinde setzt sich intensiv mit der Geschichtslast auseinander. Drei Nagelkreuze aus Coventry erinnern auf Usedom an Krieg und Versöhnung.

Es sind die Gräber der Namenlosen, die Cord Bollenbach immer wieder nachdenklich stimmen, wenn er zur Andacht auf dem Karlshagener Friedhof steht. „Thiel Tochter“ liest der Gemeindepädagoge auf einer Messingplatte. Gestorben: 18.08.1943. Ihr Geburtsdatum? Unbekannt. So wie auch das ihres namenlosen Bruders, geführt unter „Thiel Sohn“.

Der Vater jedenfalls hieß Walter Thiel und war Triebwerksingenieur der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Soviel können die Steine noch verraten. Thiels ganze Familie ist dort beerdigt. Sie sind fünf von 2 000 Opfern der Fliegerangriffe auf Peenemünde und Karlshagen, die bei den Bombenangriffen starben – in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 und am 18. Juli 1944. Zivilisten, Wissenschaftler, Zwangsarbeiter. Auch die Karlshagener Kirche fiel in der Augustnacht. „Unsere Kirchengemeinde erinnert jährlich zum Weltfriedenstag an die Bombardements“, erzählt Cord Bollenbach.

Ziel dieser Angriffe der britischen Luftwaffe war Hitlers Wunderwaffenlabor – zwischen 1936 und 1945 eines der modernsten Technologiezentren der Welt. Im Oktober 1942 gelang von hier aus der weltweit erste Start einer Rakete ins All. Und alle weiteren Unternehmungen, die seither hoch in den Himmel führten, nahmen im Grunde genau hier ihren Anfang.

Der Forschungs- und Produktionskomplex brachte unter der wissenschaftlichen Leitung Wernher von Brauns die A4/V2-Rakete hervor. Doch der Technikbegeisterung gegenüber steht das Leid der Opfer. Als sogenannte „Vergeltungswaffe 2“ kam die Rakete gegen Städte in England, Belgien und Frankreich zum Einsatz. Allein im Hauptziel London starben über 3 000 Menschen. Und die Waffe tötete schon bei ihrer Entstehung: Hunderte Zivilisten, Wissenschaftler und Zwangsarbeiter bei den Fliegerangriffen 1943 und 44 auf Peenemünde und Karlshagen. Etwa 15 000 KZHäftlinge starben später während der Massenproduktion der Rakete im Lagerkomplex Mittelbau Dora bei Nordhausen im Harz an der unmenschlichen Behandlung.

„Genau diese zwei Enden der Parabel abzubilden, sehen wir als Aufgabe unseres Historisch- Technischen Museums“, sagt Kai Hampel, Mitarbeiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Hauses. „Der Vater der Apollo-11- Mission zum Mond im Jahre 1969 war eben auch der Mann, der eine Terrorwaffe entwickelte“, so Hampel.

Auf 5 000 Quadratmetern Dauerausstellung in Deutsch und Englisch finden sich im Museum Originalteile, Zeitzeugeninterviews, Dokumentationsfilme und Modelle, die den Weg von den Träumen der ersten Raketenpioniere bis zur systematischen Entwicklung der ersten militärischen Großrakete darstellen. Ein zweiter Ausstellungsabschnitt widmet sich der Entwicklung der Raketentechnik nach dem zweiten Weltkrieg: Dem Wettrüsten, der zivilen Raumfahrt.

Aufarbeitung soll hier passieren, keine Glorifizierung. Exemplarisch dafür ist auch das Kreuz, das an der großen Wand gegenüber dem Spint von Karl Lampert hängt (siehe Kasten). Ein Nagelkreuz aus Coventry: dem um die Welt gegangenen Symbol für völkerweite Versöhnung. „Eine Delegation aus England brachte es uns zur Eröffnung der neu gestalteten Dauerausstellung 2002“, sagt Hampel. Das erste Nagelkreuz war 1940 nach dem deutschen Luftangriff auf Coventry zusammengesetzt worden: bestehend aus drei großen Zimmermannsnägeln aus dem Dachstuhl der zerstörten Kathedrale. „Vater vergib“. Nagelkreuzgemeinschaften entstanden, die heute weltweit solche Kreuze an Orte verliehen, die Friedensarbeit leisten.

Seit 2002 zählt Peenemünde dazu. Die Verleihung fand im Rahmen des ersten „Peenemünder Konzertes“ in der Turbinenhalle des Peenemünder Kraftwerkes statt. Aufgeführt wurde das „War-Requiem“ von Benjamin Britten. Sogar Gorbatschow war damals zu Gast.

„Es gibt noch zwei weitere Nagelkreuze auf Usedom“, ergänzt Cord Bollenbach von der Kirchengemeinde Krummin-Karlshagen-Zinnowitz. Eines „wandert“ seit 2009 von Kirche zu Kapelle und bleibt jeweils ein Jahr, zur Zeit ist es in Morgenitz. Unweit vom Museum steht ein weiteres, in der Karlshagener Kirche: dem Neubau nach der Zerstörung 1943. „Jeden Freitag um 17 Uhr treffen wir uns dort zur Andacht, angelehnt an das Versöhnungsgebet von Coventry, das dort Freitagmittag in der Ruine der Kathedrale gesprochen wird“, sagt Bollenbach und möchte auch Urlauber herzlich einladen, dabei zu sein.

Am 1. September findet die große gemeinsame Andacht in der Friedhofskapelle in Peenemünde statt. An genau der Stelle, an der am 26. Juni 1630 der Schwedenkönig Gustav Adolf anlandete. Doch die Andacht gilt nicht dem Kämpfer für den Protestantismus. Die 1993 vom Verfall bewahrte Kapelle wurde zur Gedächtniskapelle an die Opfer aus Peenemünde umgestaltet. Das Museum trägt Sorge, dass die Kapelle täglich für Besucher aufgeschlossen wird.

„Die Nagelkreuzgemeinden aus Hiddensee und St. Marien Stralsund sind am Weltfriedenstag traditionell hier zur Andacht zu Gast“, sagt Bollenbach. Auch die Museumsleitung natürlich. Dennoch. Trotz ihres gleichen Anliegens, nämlich Friedensarbeit zu leisten, ergeben sich bisher nicht viele gemeinsame Aktionen zwischen Kirche und Museum. „Das muss sich noch entwickeln“, ist auf beiden Seiten zu hören.

Peenemünde – ein Ort, der schwer zu tragen hat an seiner Vergangenheit. Aber die Geschichte, die er erzählt, hat viel zu sagen für die Zukunft.

Versöhnungsandachten finden jeden Freitag um 17 Uhr in der Kirche Karlshagen statt – angelehnt an das Versöhnungsgebet von Coventry.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 33/2014