Pastor Tilman Reinecke genießt die Freiheiten des Ruhestands Predigt als Kür, nicht als Pflicht

Fühlen sich wohl im neuen Haus in Glutzow bei Poseritz: Tilman Reinecke und seine Frau Katharina.

Foto: Sybille Marx

09.10.2016 · Insel Rügen. Vor gut einem Jahr ist der Poseritzer Pastor Tilman Reinecke in den Ruhestand gegangen, hat das Pfarrhaus verlassen und in der Nähe ein neues Leben angefangen. Theologe bleibt er weiter – nur ohne Berufsstress. Sybille Marx hat mit ihm gesprochen.

Herr Reinecke, vor gut einem Jahr sind Sie auf Rügen in den Ruhestand gegangen. Wie schön oder schwer war ihr erstes Jahr ohne Pfarrstelle?

Tilman Reinecke: Es war schon sehr schön, vor allem der Sommer. Meine Frau und ich hatten das Glück, dass wir ganz in der Nähe von Poseritz ein kleines Haus mit Garten kaufen konnten, das früher einem befreundeten Professor gehörte. Hier fliegen die Kraniche drüber! Und man kann wunderbar die Sterne beobachten! Außerdem ist hier manches bequemer als im Pfarrhaus.

Aber war es nicht schwer, das Pfarrhaus verlassen zu müssen? Nach fast 30 Jahren...?

Doch. Schon deshalb, weil das neue Haus viel kleiner ist, wir mussten uns von vielen Möbeln und Büchern trennen; mein Vater und beide Großväter waren auch Pastoren, insofern hatte ich eine große theologische Bibliothek. Außerdem wird einem durch diesen Abschied sehr bewusst, dass man jetzt in die letzte Phase des Lebens eintritt, dass man sich auf Alter und Tod zubewegt.

Macht Ihnen das zu schaffen?

Ich meine das einfach als Feststellung. Ich habe mich viel mit diesem Thema auseinandergesetzt, zumal ich 15 Jahre lang als Notfallseelsorger auf Rügen gearbeitet habe. Schon als Vikar musste ich ein 21-jähriges Mädchen beerdigen, das mit dem Moped verunglückt war. Das war hart. Aber man lernt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, ohne dabei zu verhärten.

Und der Abschied vom Beruf: Vermissen Sie das Gefühl, gebraucht zu werden?

Nein, es ist eine große Entlastung, nicht mehr diese Verantwortung zu tragen. Ich habe jetzt viel mehr Freiheiten, viel weniger Stress. Es kann nicht mehr dauernd passieren, dass ein Anruf kommt und ich mich schnell kümmern muss. Ich langweile mich auch nicht! 2012 bin ich in Greifswald in einen Verein eingetreten, der die Sternwarte betreut, weil ich mich schon seit meiner Kindheit sehr für Astronomie interessiere. Dass ich jetzt mehr Zeit habe für dieses Hobby, mehr Führungen in der Sternwarte anbieten kann, gefällt mir sehr.

Was ist mit Ihrem alten Bekanntenkreis? Sind Sie noch in der Gemeinde?

Ja, ich singe zum Beispiel noch im Kirchenchor in Poseritz, und treffe dort natürlich Leute, die ich aus meinem Berufsleben kenne. Es wird ja eigentlich vom Pastor erwartet, dass er mit dem Eintritt in die Rente wegzieht aus seinem früheren Seelsorgebereich. Zumindest ein Jahr lang soll er sich komplett raushalten aus dem Gemeindeleben und im Niemandsland leben, irgendwo völlig neu anfangen. Das finde ich aber ehrlich gesagt ziemlich unbarmherzig, ein Pfarrer ist ja kein Roboter. Und bei uns hat es sich einfach so ergeben, dass wir ein Haus in der Nähe gefunden haben.

Ich habe mich aber bis auf eine Ausnahme darangehalten, im ersten Jahr keine Predigten in der Poseritzer Gemeinde zu halten. Inzwischen springe ich hin und wieder ein. Ich finde es wunderbar, dass ich nicht mehr jeden Sonntag predigen MUSS, aber es hin und wieder tun kann. Theologie interessiert mich nach wie vor sehr – vor allem die Frage, wie Glaube und moderne wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenpassen. Meiner Meinung nach ist das noch gar nicht richtig durchreflektiert worden in den Gemeinden.

Wie meinen Sie das?

Ich habe den Eindruck, dass die Kirche den Gläubigen die Entmythologisierungsdebatte verschwiegen hat. Dass sie weiterhin oft so tut, als wären alle Texte aus der Bibel als historische Texte zu lesen. Die Bibel ist aber das Glaubenszeugnis von Juden und Christen auf der Basis ihres damaligen Weltbildes. Sie geht von einem völlig anderen Weltbild aus als wir heute, und viele Texte sind Mythen. Das bedeutet nicht, dass sie uns nichts mehr zu sagen hätten, eine mythische Geschichte kann ja viel wahrer sein, viel mehr zu sagen haben als ein Faktenbericht. Aber man muss eben beides voneinander unterscheiden.

Nehmen wir mal die Adam-Christus-Parallele. Da heißt es bei Paulus: Durch einen Menschen, Adam, sei der Tod in die Welt gekommen. Wenn ich das als historische Aussage lese und zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Evolution in die Beziehung setze, muss ich sagen: Was soll das? Als der erste Mensch auf der Erde lebte, war der Tod längst in der Welt! Oder der zweite Schöpfungsbericht in Genesis: Der behauptet, Adam sei vor den Tieren erschaffen worden. Evolutionsbiologisch gesehen kam aber erst das Tier, dann der Mensch. Ich glaube, dass die Theologen auf solche anstößigen Widersprüche zu wenig reagiert haben, dass sie zu lange weiter Kirchenchinesisch gesprochen haben.

Was bleibt für Sie vom Glauben, wenn man die Bibel entmythologisiert?

Das Entscheidende ist für mich der Satz: Gott ist die Liebe. Der Glaube an Jesus Christus ist kein Anhängsel, sondern das Zentrum unseres Lebens. Das haben auch die Mystiker schon erkannt, an die müsste man sich meines Erachtens heute viel stärker halten beim Predigen. Glaube ist nichts Theoretisches, kein Für-Wahrhalten gegen alle Vernunft, sondern er ist das, was mein Leben trägt. Und ich kann Menschen in der Seelsorge damit erreichen, ich kann die Wege der Liebe Gottes in der Seelsorge wahr sein lassen.

Das Liebesgebot aus der Bibel lautet wörtlich übersetzt ja: „Du wirst lieben Deinen Nächsten wie Dich selbst“, und damit sind zwei wichtige Dinge ausgedrückt. Erstens ist dieses Gebot gar kein Befehl, sondern eine Zusage. Zweitens ist damit gesagt, dass die Liebe aus der Wahrnehmung kommt: aus der Wahrnehmung der Mitmenschen, des eigenen Ich und der Spuren Gottes in meinem Leben.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 41/2016