Kommentar Norbert Lammert: Gründe für die Kirchenspaltung vor 500 Jahren gibt es nicht mehr

Von Norbert Lammert

Norbert Lammert ist überzeugter Katholik. Er ist aber auch ein Verfechter ökumenischer Zusammenarbeit.

Foto: epd

14.12.2016 · Berlin. Bundestagspräsident Norbert Lammert ist ein überzeugter Katholik – und gleichermaßen glühender Verfechter ökumenischer Zusammenarbeit. In einem Kommentar für die „Herder Korrespondenz“, den wir in Auszügen nachdrucken, erklärt er, warum er die Kirchentrennung für einen Anachronismus hält.

Die Frage nach dem Zustand, in dem sich die seit 500 Jahren gespaltene Christenheit derzeit befindet, stellt sich mit Blick auf das Reformationsjubiläumsjahr 2017 mit besonderer Aktualität. Niemand hat Zweifel, dass wir zu diesem Jubiläum eine Fülle neuer und gewiss lesenswerter Literatur zu Luther und zur Reformation wie zur Ökumene erhalten, brillante Vorträge hören, wissenschaftliche Kolloquien, Seminare und Konferenzen und bewegende Festgottesdienste erleben werden. Meine Sorge ist, dass danach alles bleibt, wie es vorher war. Nichts wird sich an der Trennung beider christlichen Kirchen grundsätzlich geändert haben.

Allzu lange Zeit sorgfältig distanziert

Die Vorstellung treibt mich und viele ökumenisch engagierte Katholiken wie Protestanten um, und ich finde diesen Zustand schwer erträglich – auch weil wir uns inzwischen fast angewöhnt haben, den Weg für das Ziel zu halten. Das Verhältnis der Konfessionen zueinander war über lange, allzu lange Zeit sorgfältig distanziert. Das hat sich Gott sei Dank geändert, jedoch am Ziel sind wir längst noch nicht.

Als Demokrat kann ich mit Unterschiedlichkeit natürlich gut leben und als Christ mit Versöhnung glänzend. Aber „versöhnte Verschiedenheit“, wie mittlerweile eine gut gemeinte ökumenische Formel lautet, für das Ergebnis der Ökumene selbst zu halten, ist doch eher eine Kapitulationserklärung. Es verwechselt den Weg mit dem Ziel. Für das Reformationsjubiläum 2017 muss der Anspruch gelten: „Ökumene jetzt! – Wann eigentlich sonst?“

Wir sollen eins sein, so lautet die klare Forderung Jesu im Johannesevangelium, aber wir sind es nicht. Wir wissen, dass uns unendlich viel mehr verbindet als trennt. Auch wenn mir die Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen hinreichend geläufig sind, wollen sie mir gerade im Kontext der gemeinsamen Aufgaben und Herausforderungen nicht hinreichend relevant erscheinen, um die Trennung, diesen letzten großen Anachronismus unserer Zeit, weiter zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Denn die theologischen und politischen Gründe, aus denen heraus die Kirchenspaltung einmal gerechtfertigt oder erwünscht erschien, existieren längst nicht mehr.

Die Trennung ist ein Skandal

„Wir dürfen und können uns mit dem Faktum der getrennten Kirchen nicht abfinden; wir dürfen uns nicht daran gewöhnen oder dieses Faktum gar rechtfertigen wollen. Die Trennung ist ein Skandal, den wir nicht verharmlosen dürfen, etwa dadurch, dass wir uns auf eine rein geistliche Einheit hinter den faktisch bestehenden Kirchentümern zurückziehen“, hat der inzwischen emeritierte Kurienkardinal Walter Kasper einmal formuliert. Er weiß, wovon er redet.

Kirchengeschichte ist wie die Nationalgeschichte voll von Aufbrüchen und Gründungen, von Aufstiegen und Niedergängen. „Zivilisationen sind sterblich – Kirchen auch“, hat Hans Maier, der frühere Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken und langjährige bayerische Kulturminister nüchtern festgestellt und hinzugefügt: „Die Kirche muss den Glauben immer zugleich bewahren und der jeweiligen Zeit neu sagen. Der Glaube kann gar nicht unwandelbar durch die Zeiten weitergegeben und in jeder Zeit in gleicher Weise gelebt werden.“

Mit Blick auf die immer noch bestehende Kirchenspaltung hängt die Frage nach der Autorität der beiden Kirchen gerade im Reformationsjubiläum auch an ihrer Fähigkeit sowie ihrer Bereitschaft zur geschichtlichen Aktualisierung als Kirche Jesu Christi. Dazu gehört ganz wesentlich die Bereitschaft und die Fähigkeit, als Institution Neues wahrzunehmen und zuzulassen, das bislang noch nicht zur Entfaltung kommen konnte: das gemeinsame Abendmahl, insbesondere, aber eben nicht nur für konfessionsverschiedene Paare.

Schwer erträgliches Ärgernis

Die Kirchenspaltung ist im Lichte der Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft für Gesellschaft und Kirche ein schwer erträgliches Ärgernis. So hat es das Zweite Vatikanische Konzil in seinem Dekret zur Ökumene schon vor einem Vierteljahrhundert erklärt. Joseph Ratzinger hatte sich in seiner „Einführung in das Christentum“ zur Kirche als Institution sehr selbstkritisch geäußert: „Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden.“

Ich fühle mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass das, was die Überwindung der Kirchenspaltung verhindert, nicht Glaubensunterschiede sind, sondern in erster Linie das Selbstbehauptungsbedürfnis von Institutionen. Und ich kann – ohne dabei zuerst auf die Kirchen blicken zu müssen – aus Erfahrung berichten, dass es eine eingebaute Versuchung jeder Institution ist, sich für wichtiger zu halten als den Zweck, um dessen Willen sie existiert.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 50/2016