Margot Käßmann zum Christfest 2016 Marias viele Gesichter

Von Margot Käßmann

Diese Krippe mit Zelt statt Stall in der Frankfurter Liebfrauenkirche hat sich Margot Käßmann als Bild für ihre Weihnachtsbetrachtung ausgesucht.

Foto: Christoph Boeckheler

24.12.2016 · Schwerin/Hannover. Immer wieder dasselbe: Im Weihnachtsgottesdienst ist nicht gerade mit Überraschungen zu rechnen. Gut so, meint die Theologin Margot Käßmann. Manches bekommt eben erst seinen Wert durch langjährige Traditionen.

Als ich vor einigen Jahren den Weihnachtsgottesdienst in der Marktkirche Hannover hielt und die Kirchenälteste mit der Lesung begann: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“, stöhnte neben mir ein etwa zehnjähriger Junge auf: „O Mann, die Story kenn ich schon!“ Ich hab’ ihm zugeflüstert: „Und du wirst sie immer wieder hören im Leben, jetzt mit deinen Eltern, später vielleicht mit deiner Liebsten und deinen eigenen Kindern! Aber du wirst sie immer wieder anders hören, weil dein Leben sich verändert und unsere Welt auch.“

Für mich klingt die Weihnachtsgeschichte jedes Jahr neu. Weil sie lebendig werden, Maria und Josef, das Kind und die Hirten und die Weisen. Wir begegnen ihnen auf den Straßen von Wittenberg und Berlin, von Emden bis Greifswald, von Kiel bis Göttingen. Schauen wir hin! In diesem Jahr ähnelt Maria für mich Yohanna aus Eritrea. Ich habe sie zum Entbindungvorgespräch begleitet. Ihr Deutsch ist schon ganz passabel, aber wie erklärst du ihr, was eine Periduralanästhesie ist? Wie eine Löwin hat sie gekämpft , damit sie kurz vor der Geburt aus der Flüchtlingsunterkunft in eine winzige Wohnung ziehen konnte. Viele haben ihr Sachen geschenkt, einen Herd, ein Sofa, einen viel zu großen Kleiderschrank. Und dann hat sie ihre kleine Tochter zur Welt gebracht, Gelilah. Zur Taufe hat sie alle eingeladen, die sie kennt.

Die Weihnachtsgeschichte wird immer aufs Neue lebendig

Ja, die Weihnachtsgeschichte wird immer aufs Neue lebendig. Letztes Jahr habe ich in der Liebfrauenkirche in Frankfurt diese Krippendarstellung gesehen. Auf den ersten Blick erschien sie klassisch. Maria in Blau, schwanger auf dem Weg mit Josef zur Volkszählung in Bethlehem. Der Ort der Geburt aber ist kein Wirtshaus, sondern ein weißes Zelt aus Plastikplanen. Diesen Anblick kennen wir, wenn wir an Lager von Menschen auf der Flucht nach Europa in Griechenland, Italien oder der Türkei denken. Ich finde das sehr passend. Es geht um Menschen mit der Sehnsucht, irgendwo in Frieden anzukommen. Wie viele Marias gibt es in den Lagern in der Türkei, im Libanon, auf den schwankenden Booten im Mittelmeer! Wie viele Josefs, die verzweifelt darum ringen, ihre Familie zu schützen, und es doch oft nicht können. Und wie viele Hirten gibt es, die sich mit Aushilfsjobs durchs Leben schlagen, arm, perspektivlos, ohne Hoffnung, dass sich noch etwas für sie ändern könnte.

Wenn wir die Weihnachtsgeschichte hören, können wir nur staunen. Gott ist offenbar ein Gott der kleinen Leute. Lichtgestalten der bunten Glitzerwelt sind unsere biblischen Protagonisten nicht. Der Gott der kleinen Leute, er ist selbst klein, elend. Und gerade deshalb weiß unser Gott etwas vom Leid des Lebens, des Alltags, von Schmerz und Trauer. Gerade deshalb können wir uns diesem Gott anvertrauen. Gott weiß um Leid und Kummer und gibt uns die Kraft, damit zu leben.

Ein Unternehmer fragte mich neulich: Heißt das denn, mit den Reichen und Erfolgreichen kann Gott nichts anfangen? Aber doch! Gott freut sich an den Menschen. Nur haben es die Reichen und Erfolgreichen wohl schwerer mit dem Glauben. Denn wer erfolgreich ist, meint oft, dass er niemanden braucht. Das habe ich mir alles selbst zu verdanken! Da vertrauen Menschen eher auf Macht, Schönheit und Geld als auf Gott. Sie sehen sich als „Macher“ ihres eigenen Lebens. Wenn sie aber frei werden von der Gier nach mehr, von der Angst um den Besitz und den Blick auf die Menschen um sie herumwerfen, Freude haben am Geben und Teilen, ihr Herz nicht an Dinge, sondern an Gott hängen, dann teilen sie die Freiheit der Kinder Gottes.

Maria vertraut sich Gott an

Aber müssen wir nicht doch etwas tun, um unser Gottvertrauen zu beweisen? Das wäre ganz gegen Luthers Erkenntnis, dass allein der Glaube unser Leben rechtfertigt und nicht unsere Leistung. An der Weihnachtsgeschichte der Evangelisten Lukas und Matthäus können wir ablesen, was Luther meint. Maria leistet nichts. Sie vertraut sich mit ihrer Schwangerschaft Gott an. Und so wird sie zum Sinnbild von Gottvertrauen. Josef hat seine Zweifel mit Blick auf die Umstände. Aber er fragt nicht viel, er steht seiner Frau bei, vertraut seiner Intuition und flieht vor dem mordenden Diktator Herodes nach Ägypten. Die Hirten haben nichts vorzuweisen. Aber sie vertrauen dieser Botschaft, die sie wie von Engeln zu hören meinen. Es wird nicht sofort alles besser für die Protagonisten. Kein Geldregen kommt über sie, kein Happy End. Und doch ändert sich ihr Lebensgefühl: Gott ist da. Gott ist mitten unter uns erfahrbar, das erleben sie. Ihr Leben macht Sinn.

In seiner Auslegung des Magnifikat schreibt Luther: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat tun will.“ Niemand. Auch du bist gemeint. Wir alle. Gott traut normalen Menschen etwas zu. Allen Menschen. Auch dir und mir. Und wenn wir begreifen, wir sind gemeint, dann können wir einen Teil dazu beitragen, dass eine Spur gelegt wird vom Frieden Gottes schon in dieser Welt.

Eigentlich wollte die Frankfurter Kirchengemeinde ein Flüchtlingsboot in die Kirche holen, um den Zusammenhang zwischen der Weihnachtsgeschichte und den Dramen, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, offensichtlich zu machen. Das erwies sich als zu schwierig. So wurde die Künstlerin Hetty Krist gebeten, ein Bild zu gestalten. Es interpretiert die traditionelle Krippenszene mit Bildern von heute, die uns alle immer wieder anrühren. Weinende Kinder sind zu sehen. Familien auf Booten. Menschen auf der Flucht, auf der Suche nach Heimat, nach Geborgenheit. Da wird sehr eindrücklich klar: Die Weihnachtsgeschichte des Lukas, sie spielt auch heute mitten unter uns.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 52/2016