Klaus-Dieter Kaiser im Gespräch Akademie-Direktor: Arm-Reich-Spaltung stärker als Ost-West-Konflikt

Klaus-Dieter Kaiser

Foto: Ulf Dahl

02.09.2019 · Rostock. Die Diskussion zur ostdeutschen Identität vernebelt nach Ansicht des Direktors der Evangelischen Akademie der Nordkirche, Klaus-Dieter Kaiser (63), reale Spaltungen in der Gesellschaft. Etwa die zwischen Arm und Reich, zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern oder zwischen Stadt und Land. Diese Spaltungen fordern die Gesellschaft viel stärker heraus als die vermeintliche, darüberstehende Spaltung zwischen Ost und West, sagte der Theologe im Gespräch. Außerdem plädierte er dafür, dass sich Menschen aus Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach der friedlichen Revolution verstärkt gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen sollten.

Gibt es nach Ihrer Ansicht eine ostdeutsche Identität?

Klaus-Dieter Kaiser: Ja und nein. Identitäten sind erst einmal künstliche Konstruktionen, nichts Naturgegebenes. Ohne eine Identität kommen wir nicht aus. Das Gefühl, ostdeutsch zu sein, ist eine Identität. Aber inwieweit spiegelt dies die Wirklichkeit wider? Und da habe ich große Fragezeichen.

Welche sind das?

Kaiser: Man muss fragen, welche Motive, Interessen dahinter stehen. Warum sich im Moment in der öffentlichen Diskussion alles auf eine ostdeutsche Identität konzentriert. Nach 30 Jahren friedliche Revolution geht es um die Deutungshoheit der Geschehnisse damals. Und: Bei der Suche nach den Gründen für die Erfolge von Rechtspopulisten und AfD in Ostdeutschland wird auch sehr verallgemeinernd auf das Konstrukt ostdeutsche Identität zurückgegriffen. Doch die permanente Diskussion dazu vernebelt reale Spaltungen, die da sind. Zwischen Arm und Reich, zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen unterschiedlichen Mentalitäten, zwischen Stadt und Land. Es gibt eine ganze Menge von Spaltungen, die die Gesellschaft viel stärker herausfordern als die vermeintliche, darüberstehende Spaltung zwischen Ost und West. Es gibt auch in Westdeutschland abgehängte Regionen. Hinzu kommt, dass diese Verengung auf die Zeit nach 1990 die Kraft der Prägungen eines Lebens unter den Bedingungen der SED-Diktatur vernachlässigt.

Welche Ursachen hat eine bestimmte Spielart von ostdeutscher Identität?

Kaiser: In der DDR gab es, aus nachvollziehbaren Gründen, eine Staatsfixiertheit. Der SED-Staat hat alles an sich gerissen. Wenn man etwas ändern wollte, musste man den Staat verändern. Gleichzeitig hat man vom Staat alles erwartet. Nach meinem Eindruck hat sich im Osten eine große Erwartungshaltung an den Staat, der alles richten soll, bis heute erhalten.

Was wäre besser?

Kaiser: Erwartungen auch an die Gesellschaft zu richten. Der Staat muss die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen, aber er ist nicht für alles zuständig. Gesellschaft und Staat sind zu unterscheiden.

Und was heißt das konkret?

Kaiser: Wir brauchen eine verstärkte Eigenverantwortung. Es geht nicht um ostdeutsche Identität, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen und Gemeinsinn zu entwickeln. Vereine zu gründen etwa.

Aber es gibt doch viel ehrenamtliches Engagement in MV.

Kaiser: Ja. Da passiert in Mecklenburg-Vorpommern schon viel, aber die fehlende Praxis einer offenen Gesellschaft über zwei Generationen hinweg ist noch spürbar und macht einen Unterschied zu manch anderer Region in Westdeutschland aus. Außerdem warne ich davor, den inneren Zusammenhalt in der DDR als Ideal zu sehen. Das war eine Notgemeinschaft, weil man bestimmte Produkte tauschen musste. Aber es war keine Gemeinschaft wie ein Vereinswesen von Freien. Es war eine Beziehungsstruktur, die faktisch den freien Markt ersetzte.

Was ist gut gelaufen und was vielleicht nicht beim Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland?

Kaiser: Gut gelaufen ist, dass wir durch die Wiedervereinigung sofort die soziale Marktwirtschaft und das Grundgesetz hatten. Wir sind wunderbar in ein soziales Auffangnetz gefallen, im positiven Sinne. Es gab eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit. Das mussten sich die anderen osteuropäischen Gesellschaften mühsam erarbeiten.

Die Kehrseite ist, dass es ein Stück weit auch ein Geschenk gewesen ist. Und dass viele Ostdeutsche das Gefühl vermittelt bekamen, sie müssten besonders dankbar dafür sein. Doch von außen erwartete Dankbarkeit hat etwas mit Demütigung zu tun. Das könnte eine der Ursachen sein, dass es Menschen mit ostdeutscher Biografie, obwohl es ihnen in ihrer Selbstwahrnehmung und auch empirisch belegbar besser geht als vor 30 Jahren, sie dennoch das Gefühl haben, irgendwie Menschen zweiter Klasse zu sein. Hinzu kommt, dass es ökonomische Verwerfungen im Einigungsprozess gab. Diese Probleme aber nur einseitig dem Vereinigungsprozess vorzuwerfen, ist falsch und ein gefährlicher Mythos, wie es derzeit im Blick auf die "Treuhand" praktiziert wird. Das ökonomische und ökologische Desaster der SED-Wirtschaft gerät dabei als Ursache aus dem Blick.

Könnte der heutige "Wutossi" auch damit zusammenhängen, dass das Leben in der DDR zu wenig gewürdigt wurde?

Kaiser: Der DDR-Staat war ein Unrechtsstaat, denn es gab keine Rechtsstaatlichkeit. Das darf aber nicht ausgespielt werden gegen Biografien und Lebensleistungen. Wir haben ganz normal in der DDR gelebt, geliebt, gehofft, gestritten, getrauert. Aber das Leben unterschied sich in einigen Punkten von einem Leben in einer freien, offenen, pluralistischen Gesellschaft.

Können Sie einige nennen?

Kaiser: Wir wurden zur Doppelzüngigkeit erzogen. Das prägt Menschen teilweise noch bis heute mit einem starken Misstrauen und einem Freund-Feind-Denken. Und es gab 1990 einen Utopie-Verlust. Das ist für mich eine der Hauptursachen für die ostdeutsche Identitätskonstruktion. Die meisten Menschen in der DDR hatten ihre klare Westausrichtung. Die Bundesrepublik war das utopische, nicht erreichbare Land. Und plötzlich war sie Alltag. Für die D-Mark, das heilige Geld, fast sakral verehrt, eins zu fünf getauscht, musste man ab 1. Juli 1990 alltäglichste Dinge wie Toilettenpapier kaufen. Das war erst mal ein Schock, ein Erwachen aus einem Traum.

Welche Herausforderungen sehen Sie für das weitere Zusammenwachsen in Ost- und Westdeutschland?

Kaiser: Wir brauchen viel mehr Zeit für Gespräche miteinander, müssen uns unsere Biografien und die damit zusammenhängenden Prägungen erzählen. Für viele Menschen aus Westdeutschland ist der Osten weiterhin ein fernes Land, in das sie nicht reisen. Da erlebe ich die Nordkirche als sehr offen. Da können wir beispielhaft vorangehen.

Was braucht es für dieses Erzählen?

Kaiser: Ich plädiere dafür, Fortbildungen anzubieten und in der Fläche vor Ort Gesprächsmöglichkeiten zu schaffen, beispielsweise aus Dithmarschen Leute nach Mecklenburg einzuladen. Der bisher anlassbezogen praktizierte Predigttausch ist eine kleine zarte Pflanze. Mir schwebt mehr vor, das zu intensivieren und Kirchengemeinde-Partnerschaften in den Blick zu nehmen und dafür auch Anreize zu schaffen.

Was könnte Kirche gegen die Spaltung in der Gesellschaft tun?

Kaiser: Gemeinwohlarbeit vor Ort mit den Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Den Kontakt, Verbündete suchen. Da sind wir schon ein ganzes Stück vorangekommen. Zu Anfang gab es verständlicherweise starke Vorbehalte, mit staatlichen Strukturen oder Schulen zusammenzuarbeiten. Hinhören, was die Probleme vor Ort sind. Armut vor Ort in den Blick nehmen. Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Hier sind wir als Kirche eine in der Fläche des Landes präsente Institution und haben eine entsprechende Verantwortung.

Haben Sie für sich Lehren aus der friedlichen Revolution gezogen?

Kaiser: Erstens: Dass Geschichte unberechenbar ist. Man kann vom Wunder der friedlichen Revolution sprechen. Zweitens: Solche geschichtlichen Prozesse sind vielschichtig. Viele haben dazu beigetragen. Drittens: Man darf die friedliche Revolution nicht kleinreden auf ein deutsch-deutsches Verhältnis, sondern muss auf ganz Europa sehen. Viertens: Man kann aus dem Sich-Eingerichtet-Haben, Opfer-Sein herauskommen, wenn man mit anderen zusammengeht, die eigene Angst hinter sich lässt.

Was wünschen Sie sich für das Gedenken an 30 Jahre friedliche Revolution?

Kaiser: Erstens: Wegzukommen von der Behauptung eindimensionaler Kausalzusammenhänge und vom unfruchtbaren Streit, wer eigentlich die Träger der friedlichen Revolution waren. Das lässt sich nämlich nicht so einfach beantworten. Die Verhältnisse wurden damals zum Tanzen gebracht, als die Engagierten und die Enttäuschten zusammentrafen. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Albert O. Hirschman beschrieb mit diesen Begriffen Anfang der 1980er Jahre das Verhältnis zwischen privaten Interessen und der öffentlichen Aktion für das Gemeinwohl. Genau das ist, meine ich, 1989 in der DDR passiert. Die Enttäuschten und die Engagierten hatten für kurze Zeit die gleichen Interessen.

Und zweitens: Dass man erst mal ausspricht, was gelungen ist. Erst dann kann und muss man mit gleicher Klarheit sagen, wo noch offene Herausforderungen sind. Drittens: Dass man denen widerspricht, die dieses komplexe Ereignis von 1989 und die Wiedervereinigung 1990 für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren. Und das geht von links bis rechts. Die Erfahrungen der friedlichen Revolution dürfen nicht zum Spielball der Populisten werden.

Drittens: Dass auch die Ereignisse in den kleinen Orten in den Blick genommen werden, wo Menschen ihre Angst abschüttelten, mit ihrem Protest in die Öffentlichkeit gingen und sich dabei nicht in der Masse verstecken konnten. Dazu gehörte damals viel Mut. Heute, in einer offenen Gesellschaft, braucht es vielleicht weniger Mut, aber gleichwohl angesichts der Herausforderungen in einer globalisierten Welt Engagement.

Quelle: epd