Kirche Stralsund: Denkmal im Weg Russisches Ehrenmal aus DDR-Zeiten sitzt St. Marienkirche vor der Nase – muss das sein?

Von Sybille Marx

Genau hinter dem Obelisken liegt das Nordportal – verschlossen.

Foto: S. Marx

07.06.2015 · Stralsund. Jahrhundertelang diente das Nordportal der Stralsunder Marienkirche als Haupteingang. 1967 wurde ein Obelisk davorgesetzt. Die Sichtachse vom Markt ist seitdem zu. Ein Jammer, findet die Gemeinde – und hofft, dass der Stein endlich weicht.

Wer als Besucher in Stralsund über den Neuen Markt schlendert und auf die alte St. Marienkirche zusteuert, muss die Augen lange suchen lassen. Wie eine Glucke thront diese Backsteingotikkirche über der Stadt, ihr wuchtiges Querhaus überragt mühelos alle Hauser. Beeindruckend sieht sie aus, diese von der Baumasse her größte Kirche Mecklenburg- Vorpommerns. Aber: Wo ist eigentlich der Eingang…?

Christoph Lehnert seufzt. Genau das ist das Problem, sagt der Gemeindepastor. „Wer vom Markt kommt, sieht den Zugang nicht.“ Denn ein übermannshoher Obelisk, ein sowjetisches Ehrenmal aus DDR-Zeiten, versperrt den Blick aufs Nordportal, den früheren Haupteingang. Der ist darum auch verschlossen. Und rund um die Marmorstele erstreckt sich ein kleiner Friedhof: der russische Ehrenfriedhof, den im Juli 1945 der russische Stadtkommandant hatte anlegen lassen. Gefallene oder gestorbene Angehörige der Sowjetarmee wurden hier bestattet, in 76 Gräbern. „Die Idee, dass die russischen Kriegsopfer geehrt werden, wollen wir auch gar nicht in Frage stellen“, sagt Christoph Lehnert. „Aber muss deshalb dieser Klotz da stehen?“

„Ein bewusster Affront gegen die Kirche“

Uwe Kiefer, gebürtiger Stralsunder und früher Bauexperte bei der Pommerschen Kirche, denkt ähnlich. „Der Obelisk wurde 1967 als bewusster Affront gegen die Kirche aufgestellt“, sagt er. Nun könne dieses Bauwerk doch endlich weichen – wenn nicht ganz, wenigstens um ein paar Meter! Aber geht das? Konnte die Stadt ein russisches Denkmal versetzen, noch dazu, wenn Kriegsgräber rundherum liegen? Sie kann, meint Friedrich Weigelt vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Weltweit kümmert sich dieser Verein darum, Kriegsopfern würdige Grabstatten zu schaffen. „Wir sollten den Friedhof vor der Marienkirche auflösen und die Begrabenen auf den Hauptfriedhof der Stadt umbetten“, fordert er als Kreisvorsitzender des Volksbunds in Stralsund. In ganz Europa arbeite man nach der Devise, dass Gedenkstatten für alle Kriegsopfer stimmiger seien als einzelne, die zwischen Angreifern und Opfern unterschieden.

Auch den Obelisken mit dem Relief, auf dem ein russischer Soldat einem Zivilisten die Hand schüttelt, halt Weigelt nicht mehr für zeitgemäß. Zwar hatten Denkmalsschützer schon betont, dass man die Stele als Erinnerung an DDR-Zeiten bewahren musse. „Die Marienkirche steht aber seit Jahrhunderten am selben Platz“, meint Weigelt. „Dagegen ist die DDR doch ein Splitter der Geschichte.“

Problem: Entscheiden musste das alles die Stralsunder Bürgerschaft, in Abstimmung mit der Russischen Botschaft, wie Stadtsprecher Peter Koslik erklärt. Und einen Beschluss gibt es nicht. Dabei hatte die Stadt schon vor über zwei Jahren angefangen, mit Anwohnern, Unternehmern und anderen Bürgern über eine komplette Umgestaltung des Neuen Marktes zu debattieren. Die Berichte von diesem Beteiligungsprozess belegen: Nicht nur Lehnert wünscht sich, dass die Sicht- und Wegachse zum Nordportal der Kirche wiederhergestellt wird. Es gebe aber Für und Wider, sagt Sprecher Peter Koslik. Und die eigene Position werde die Stadt erst formulieren, wenn sie den Gestaltungswettbewerb für den Neuen Markt ausrufe. Der sei für 2016 geplant.

„Ein Symbol für die Buße“

Mindestens bis dahin müssen Gemeindeglieder also weiter das Westportal nutzen, wenn sie St. Marien betreten wollen. Problematisch, meint Uwe Kiefer. „Das ist die Wetterseite.“ An stürmischen Tagen lasse sich die riesige Tür kaum öffnen, Kalte und Nasse drangen zudem schnell ins Hauptschiff ein, gefährlich für die Orgel. Seine These: „Im Mittelalter wurde dieses Portal nur zu festlichen Anlassen geöffnet“, städtischer Haupteingang war das Nordportal. Zwar standen damals Hauser auf dem Platz vor der Kirche. „Aber es gab eine Gasse, die direkt auf das Portal zuführte“, sagt Pastor Lehnert. Das habe auch einen theologischen Grund: Wer dort eintritt, blicke anders als von Westen her nicht direkt auf den Altar, sondern müsse sich erst drehen. „Ein Symbol für die Buße.“

Uwe Kiefer bedauert zudem, dass die Schönheit des Nordportals hinter dem Obelisken kaum zur Geltung kommt. Eine der ältesten Türen der Stadt, um 1427/30 gezimmert, sitze dort im Gemäuer. In der Fassade obendrüber hatten spätgotische Baumeister drei Nischen geschaffen, in denen früher holzgeschnitzte Figuren standen: Petrus, Maria mit dem Jesuskind und Paulus. Und wer durch die Tür ging, gelangte in eine Vorhalle mit Kreuzrippengewölbe. „So eine Portalvorhalle ist etwas ganz Besonderes“, sagt Uwe Kiefer. In der gesamten Nordkirche gebe es nur vier, darunter die Paradiesvorhalle in Lübeck.

Auch wenn die Gemeinde bei der Stadt seit Jahren auf Granit beißt: Kiefer sammelt jetzt Spenden. Für je 20 000 Euro wurde der Bauexperte die Holzfiguren gern nachschnitzen lassen und wieder in die Nischen stellen. „Dann konnte man das Pferd von der anderen Seite her aufzäumen“, meint er. Denn wenn die alte Schönheit des Nordportals wieder hergestellt wäre, wurde vielleicht auch der letzte Zweifler erkennen: Ein solches Portal versteckt und verschließt man nicht.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 23/2015