Vor 85 Jahren eröffnete die Stralsunder Heilgeistgemeinde ihren Kindergarten „Lasset die Kindlein zu mir kommen“

Von Christine Senkbeil

Morgenkreis im Herzstück von Eden, dem alten Gemeindesaal.

Foto: Kita

09.03.2014 · Stralsund.

Einen Kleiderschrank, einen für Wäsche, Spieltisch und Garderobenständer spendierte das städtische Wohlfahrtsamt. Dazu einen Stuhl, einen Waschtisch, drei Tische und vier Bänke. Soviel musste genügen, als am 4. April 1929 die Wohnung des Fräulein Ilse Reder auf dem Frankendamm 4a von 20 Kindern heimgesucht wurde – und damit der Kindergarten der Heilgeistgemeinde seine Geburtsstunde erlebte.

85 Jahre ist es her. Eine Zeit, in der sich die Einrichtung durch verschiedene Gesellschaftssysteme hindurch behauptete – nicht zuletzt, weil die Gemeinde immer fest hinter ihr stand.

1929 in Stralsund. Weltwirtschaftskrise. Zunehmende Arbeitslosigkeit, hier wie in ganz Deutschland. Mütter suchten Zuverdienste, nähten, stopften, wuschen bei bessergestellten Herrschaften. Aber wohin mit den Kindern? Fünf kommunale bzw. private Kindergärten gab es bereits in Stralsund, doch das reichte nicht. Gerade in der wachsenden Frankenvorstadt. Bürgerverein und die Frauenhilfe setzten sich seit 1927 für einen Kindergarten ein. Zwei Anläufe misslangen – es fehlte an Raum.

Die Wohnung des alten Apothekers Reder schließlich wurde für ein erstes halbes Jahr zur Übergangslösung. Dann rückte die Frauenhilfe von Heilgeist zusammen. Unter Leitung von Pastor Heyn wurde sie auch Träger des Kindergartens. „Der Pastor richtete sich ganz praktisch nach dem Jesus-Wort: ‚Lasset die Kinderlein zu mir kommen’“, erzählt Heilgeist-Gemeindepädagogin Andrea Lehnert. „Zu Jesus Zeiten war es ja auch revolutionär, dass er sich um Kinder kümmerte und in ihnen mehr sah als eine Altersvorsorge.“

Raum für 70 bis 80 Kinder

Der große Gemeinderaum der Heilgeistgemeinde mit dem gusseisernen Ofen im Kleinen Diebsteig 15 wurde also für die Kinder geöffnet – und ist Mittelpunkt der Kita bis heute. Um fünf Uhr begann das Leben im Saal. Dann heizten die Erzieherinnen den Ofen an, damit es um 8 Uhr für die Kinder warm war. Eine Reichsmark pro Kind pro Woche hatten die Familien zu entrichten. Enthalten: eine Tasse Milch zum Frühstück. Zum Mittagessen ging es wieder nach Haus. Am Nachmittag und häufig abends nutzte weiter die Heilgeist- Gemeinde den Veranstaltungsort.

Ein Raum für 70 bis 80 Kinder – in Spitzenzeiten 1947 kamen sogar 105 Kinder – da braucht es Disziplin bei den Kleinen – und sicher starke Nerven bei den Erzieherinnen, oder bei den „Tanten“ , wie die Kinder sie bezeichneten. „Heute ist es für mich kaum vorstellbar, dass solch eine große Rasselbande in einem einzigen Raum zur Ruhe kommt“, schreibt Lothar Schmidt, ein Ehemaliger, der ab 1940 den Kindergarten besuchte. „Aber es störte mich nicht. Gemeinsam haben wir dort gegessen, gebastelt und gespielt und viel gesungen. Und unsere Tanten schafften es, dass Stille eintrat, wenn es notwendig war.“

Besonders artig, so erinnert sich der Mann noch heute, musste er auf dem Hof sein. Schließlich hatte die Mutter Ausblick auf den Kindergartenhof und „könnte ja am offenen Fenster stehen.“ In Krieg und Nachkriegszeit hatte es auch der Kindergarten schwer. Krankheiten wie Diphterie und Typhus griffen um sich. Kein Feuerholz. Für Wochen blieb die Einrichtung geschlossen. Auch der schreckliche Bombenangriff vom 6. Oktober 1944 hinterließ Wunden. Zwar blieb das Haus verschont, aber drei Kinder waren ums Leben gekommen. In der Folgezeit flohen viele aufs Land. Im November 1944 waren gerade 20 Kinder gemeldet.

Auch im neuen Staat DDR war die Kindertagesstätte alles andere als ein Selbstläufer. Für die Machthaber war sie eher Überbleibsel aus vergangener Zeit. 1951 verfügte das Stadtschulamt marxistisch-leninistische Bildung für die Erzieherinnen. Zehn Jahre später drohte die Schließung wegen fehlender finanzieller Mittel, die kurz vor Ultimo von der Kirchenverwaltung bereitgestellt wurden. Erst 1967 erhielt der Kindergarten endlich weitere Räume im Hause: moderne Toiletten, einen Waschraum und eine Küche. „Es wollte auch niemand Essen liefern“, berichtet die heutige Leiterin, Anett Kindler, aus Erzählungen. Eltern und Kirchengemeinde organisierten also private Essen-Transporte aus dem Schwesternheimathaus.

Nur 40 Kinder durften betreut werden, wenngleich die Warteliste lang war. „Aber hier war ein Zufluchtsort für die Kinder von Eltern, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten und verfolgt wurden“, ergänzt Andrea Lehnert, die damals als Erzieherin hier anfing und heute als Gemeindepädagogin der Heilgeistgemeinde fast täglich vor Ort ist.

„Und dann passte alles ineinander“

Inzwischen tollen hier 100 Kinder aus Stralsund und Umgebung durch das Haus – und Platznot gibt es keine mehr. Jede leergezogene Wohnung im Gemeindehaus bekam die Kita. Das Haupthaus wurde saniert und seit 2010 konnte als Ziel eines langen, beschwerlichen Weges ein geräumiger moderner Anbau übergeben werden. „Peter Miehe, der bis zum letzten Jahr Vorsitzender des Gemeindekirchenrates war, und Anett Kindler hatten sich zusammen mit dem Förderverein unermüdlich für den Anbau eingesetzt und manchen Rückschlag hingenommen“, sagt Andrea Lehnert. Ein Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Nachfrage beim Oberbürgermeister gaben schließlich den Ausschlag, dass Gelder vom Bundes-Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“ flossen. „Und dann passte alles ineinander“, sagt die Kita-Leiterin.

Zwölf Pädagogen und drei technische Angestellte hat die Kita heute für die 100 Kinder. Etwa ein Fünftel der Eltern haben einen christlichen Hintergrund. „Die anderen schätzen das Bild, das wir von den Kindern haben und das auch leben“, sagt die Leiterin. „Die Kinder stehen eben im Mittelpunkt und dürfen sich auch mal beschweren.“

So wie Tobias (5), der heute mit einer kleinen Abordnung am Zimmer der Chefin klopfte und anregen wollte, dass im Winter nicht mehr draußen gespielt werden müsse. Mit einem Kopfschütteln werden solche Ideen hier nicht abgetan. In der Gruppe überlegen Kinder und Erzieherin, was dafür und dagegen spräche. „Frische Luft ist wichtig“, wird klar. „Aber da können wir ja die Fenster auflassen“, erklärt der Kleine gewitzt. Ein Kompromiss wird gefunden. Manchmal darf man auch drin bleiben, aber einmal am Tag geht jeder raus.

Ob drinnen oder draußen, ob beim „artigen“ Spielen oder ernsthaftem Diskutieren – die Kinder aller Generationen seit 85 Jahren hegen gute Erinnerungen an ihre Zeit in der Kita „Eden“. Das wurde auch in der Festwoche deutlich. Viele ehemalige und jetzige Kindergartenkinder kamen zur bunten Festwoche mit Gottesdienst, Puppentheater und großem Empfang. Es wurden Geschichten erzählt, alte Fotos angeschaut – und viele neue gemacht. Denn die Idee von Kinderlein, die da kommen sollen, ist lebendig wie vor 85 Jahren – und wie zu Zeiten von Jesus.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 10/2014