Kunsthistorikerin macht Umgang mit Tod auf ungewöhnliche Art zum Thema Keine Angst vor dem Friedhof

Von Sybille Marx

Wie frühere Generationen mit Verstorbenen umgingen, erzählt die Kunsthistorikerin Anja Kretschmer auf Friedhöfen – wie diesem in Lambrechtshagen bei Rostock. Meist schlüpft sie dafür noch in ein historisches Kostüm.

Foto: Cathi Schulz

26.11.2017 · Rostock/Greifswald. An diesem Sonntag, dem Ewigkeitssonntag, ruft die Kirche zum Gedenken an die Verstorbenen auf. Die Rostocker Kunsthistorikerin Anja Kretschmer führt noch auf ganz andere Art ans Erinnern heran.

Schwarze Kunstlocken kringeln sich um ihr Gesicht, schwarz ist ihr Hut, schwarz auch das barocke Kleid: Wenn Kunsthistorikerin Anja Kretschmer aus Rostock über Friedhöfe in Mecklenburg- Vorpommern und anderswo führt, verwandelt sie sich meist in die „Schwarze Witwe“ aus dem 19. Jahrhundert. Im Schein einer Laterne erzählt sie ihren Besuchern dann von den ersten Bestattungen vor Ort, der Trauermode seit dem 16. Jahrhundert, von Missgeschicken, abergläubischen Handlungen oder anderen Besonderheiten. „Friedhofsgeflüster“ nennt sie diese Führungen, die sie seit 2010 anbietet. „Manche Besucher sind nachher richtig erleichtert, dass es gar nicht so schlimm war, dass man sogar lachen konnte“, erzählt sie.

In solchen Fällen hat die 36-Jährige ihr Ziel erreicht: Sie will den Menschen Berührungsängste nehmen, so zu einer Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und dem Umgang mit Verstorbenen anregen. „Die Menschen, die auf den Friedhöfen begraben liegen, sind diejenigen, die unsere Städte überhaupt zu dem gemacht haben, was sie heute sind“, sagt Anja Kretschmer, die auch als Trauerrednerin arbeitet. Dass die Evangelische Kirche den letzten Sonntag im Kirchenjahr als Totensonntag feiert, findet sie darum gut – auch wenn sie selbst konfessionslos ist. „In unserer schnelllebigen Zeit nehmen sich viele sonst nur wenig Zeit, an die Verstorbenen zu denken“, meint sie. Als Kind in Sachsen habe sie noch erlebt, wie die Eltern mit ihr fast jeden Sonntag auf den Friedhof gingen, wie die Verbindung zwischen der früheren und gegenwärtigen Generation ganz selbstverständlich gehalten wurde.

Heute wählten immer mehr Menschen Bestattungsformen, die nichts Sichtbares hinterlassen, sagt sie: einen unbestimmten Platz im Friedwald, ein anonymes Urnengrab auf einer Wiese oder eine Seebestattung. „Aber viele Hinterbliebene haben dann doch das Bedürfnis, einen konkreten Ort zum Erinnern zu haben.“

Das Bett für die Seele zurecht gedreht

In Warnemünde gebe es zum Beispiel Steine an einer Mole, an denen viele Menschen Blumen oder Kränze ablegten. Und als Trauerrednerin beobachte sie immer wieder, wie Angehörige Bäume oder Bodenplatten zählten, um sich zu merken, wo genau ihr Verstorbener auf der Wiese oder im Wald liege.

Auch die Art, wie Angehörige die Tage bis zur Bestattung verbringen, hat sich im Laufe der Jahrhunderte radikal verändert, sagt die Kunsthistorikerin. „Früher haben die Menschen noch viel Zeit mit den Verstorbenen verbracht.“ Am Bett des Toten hielten sie tagelang Wache, sorgten dafür, dass Tiere fernblieben, wuschen den Toten, machten ihn schön. „Im 19. Jahrhundert war es sogar noch üblich, der Seele Unterhaltung anzubieten“, erzählt sie. So wurde ihr vorgetanzt, wurden Geschichten erzählt. „Oder man hat das Bett Richtung Tür gedreht, damit die Seele leichter hinausfindet.“ Mit dem Aufkommen der Fotografie sei es dann üblich geworden, die Toten angekleidet zu fotografieren, manchmal mit ihren Liebsten neben sich, wie Schlafende im Bett oder auf dem Sofa. „Man hatte da keine Berührungsängste.“

Heute beobachtet Anja Kretschmer eher das Gegenteil. „Ich bekomme als Trauerrednerin oft mit, dass jemand im Krankenhaus oder Pflegeheim gestorben ist und die Angehörigen ihn nicht nochmal sehen wollten, bevor der Bestatter kam.“ Viele hätten Angst davor, könnten sich nicht vorstellen, wie ein Toter aussehe, wollten ihn lieber als Lebenden in Erinnerung behalten. „Das Realisieren, dass der Angehörige wirklich tot ist, braucht dann aber manchmal lang.“

Sie selbst hatte in einer Doktorarbeit an der Uni Hamburg angefangen, sich mit der Bestattungskultur früherer Jahrhunderte zu beschäftigen, und dann auch mit der gegenwärtigen. Ihr Blick aufs Leben hat sich verändert, sagt sie: „Mir ist heute sehr präsent, dass wir alle sterblich sind. Ich versuche darum, jeden Tag dankbar zu sein für das, was ich habe, und es zu genießen.“ Aber vor allem lenke das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit ins Hier und Jetzt: „Man schiebt nicht mehr so viele wichtige Dinge auf. Man weiß ja nie, wie lang man sie noch machen kann.“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 47/2017