Diakonie-Präsident Ulrich Lilie im Gespräch Was ist heute Diakonie in Deutschland?

Ulrich Lilie (57) war in Düsseldorf Pfarrer, Stadtsuperintendent und theologischer Vorstand der diakonischen Graf-Recke-Stiftung. Lilie ist verheiratet und hat vier Kinder im Alter von 14 bis 20 Jahren. Er ist Nachfolger von Oberkirchenrat Johannes Stockmeier (66), der die Diakonie von Januar 2011 bis Mai 2014 leitete.

© Diakonie/S. Roeger

28.07.2014 · Berlin. Zwei kirchliche Werke sind die größten Arbeitgeber in Deutschland: die katholische Caritas und die evangelische Diakonie. Es gibt kaum einen Ort, in dem sie nicht in irgendeiner Weise ihren Dienst anbieten. Am 1. Juli hat Ulrich Lilie als neuer Präsident der Diakonie Deutschland in Berlin sein Amt angetreten. Welche Ziele verfolgt er mit dem kirchlichen Sozialunternehmen mit rund 450 000 angestellten Mitarbeitern? Mit Lilie sprach Karsten Huhn.

Herr Präsident, es ist seltsam: Die Zahl der Christen in Deutschland nimmt ab – die Angebote der Diakonie jedoch zu. Wie passt das zusammen?

Die Rahmenbedingungen für Kirche und Diakonie entwickeln sich unterschiedlich: Die Nachfrage nach diakonischen Leistungen ist ungebrochen, gleichzeitig geht aufgrund des demografischen Wandels die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder zurück. Die Diakonie benötigt mehr Fachkräfte. Denn es gibt mehr ältere Menschen, die unterstützt, und mehr Kinder und Jugendliche, die aufgrund traumatischer Erfahrungen intensiv betreut werden müssen.

Müsste die Diakonie nicht kleiner werden, wenn es weniger Christen gibt?

Die Angebote der Diakonie richten sich ja nicht nur an Christen, sondern an alle Menschen – unabhängig von ihrer Religion, Herkunft oder Nationalität. Daher bleibt die Nachfrage nach diakonischen Angeboten groß. Es bleibt aber eine anspruchsvolle Aufgabe, das Profil einer größer werdenden Diakonie so klar zu halten, dass die Leute wissen, dass dort, wo Diakonie draufsteht, auch Diakonie drin ist.

Was ist in der Diakonie drin?

Wer zu uns kommt, darf erwarten, dass er eine fachlich professionelle Leistung erhält, auf Wunsch aber auch Seelsorge erfährt – und im Idealfall von Ehrenamtlichen zum Beispiel aus der ortsansässigen Kirchengemeinde unterstützt wird. Es wäre auch keine Katastrophe, wenn er auf jemanden trifft, der zu Sinn- und Glaubensfragen auskunftsfähig wäre.

Der Münchener Theologe Prof. Friedrich Wilhelm Graf sagte in einem Interview mit dem Fachmagazin „Wohlfahrt intern“, Diakonie und Caritas sollten sich als „Dienstleister statt als Heilsbringer begreifen“.

Das ist ganz sicher so – in erster Linie sind wir Dienstleister. Aber mit unserer Arbeit veranschaulichen wir auch das Evangelium und laden zum Glauben ein. Allerdings versteht sich die Diakonie nicht als „Heilsbringerin“. Das wäre auch mit unserem christlichen Glauben nicht vereinbar.

Was ist sie dann?

Diakonie ist Liebestätigkeit und professionelle Hilfe im Auftrag Jesu Christi, der sich vorbehaltlos in den Dienst des Nächsten gestellt hat. Im Vordergrund steht immer die individuelle Hilfe und nicht die missionarische Gelegenheit.

Zur Diakonie gehört auch die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD). Sie sagten gerade, die Diakonie sei nicht missionarisch.

Wir wollen auskunftsfähig sein und mit unseren Überzeugungen in den Dialog gehen, das ist völlig klar. Die AMD trägt dazu bei, diesen Dialog in allen Bereichen zu entfalten und eine Begegnung mit christlichem Glauben zu ermöglichen. Dazu gehört auch, Mitarbeitenden neben der fachlichen Bildung Zugang zu Glaubensbildung zu vermitteln.

Welchen Auftrag hat dann die AMD? Soll sie vor allem nach innen arbeiten und die Mitarbeiter geistlich fördern, oder soll sie auch Patienten missionarisch ansprechen?

Es geht darum, den Schatz des Evangeliums für Mitarbeiter zu erschließen. Wir beschäftigen – besonders in den neuen Bundesländern – viele Mitarbeiter, die völlig säkular aufgewachsen sind und dennoch gerne bei der Diakonie arbeiten. Sie dürfen erwarten, dass wir in Glaubensfragen auskunftsfähig sind.

Die Diakonie beschäftigt immer mehr konfessionslose Mitarbeiter. Verliert sie dadurch an Profil?

In dieser Situation kommt es darauf an, dass wir selbst die Truhe mit dem Schatz des Evangeliums nicht verschließen. Das ist vor allem eine Aufgabe für leitende Mitarbeiter und für Menschen, die hier über besondere Gaben verfügen und sich einbringen können. Ich sehe hier eine große Herausforderung, aber auch Riesenchancen im Zusammenspiel von Diakonie und Kirche.

Sollte jeder Mitarbeiter in der Diakonie einen Glaubenskurs besuchen?

Die Teilnahme an Glaubenskursen zur Pflicht zu machen, halte ich für unklug. Jeder Mitarbeiter sollte eingeladen sein, aber wir brauchen keinen Glaubens-TÜV. Evangelium setzt auf Einladung, nicht auf Zwang.

Dürfen solche Kurse in der Arbeitszeit gehalten werden?

Das halte ich für selbstverständlich, weil es unser evangelisches Selbstverständnis ist, solche Kurse anzubieten und den Glauben zu leben.

In Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sind Zeit und Personal knapp. Ist es da überhaupt möglich, Mitarbeiter für die Teilnahme an Glaubenskursen freizustellen?

Das lässt sich organisieren. Denkbar wäre zum Beispiel, dass solche Kurse in Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden angeboten werden. Die Diakonie ist sich jedenfalls der Verantwortung für die Kommunikation des Religiösen sehr bewusst und wird sich ihr nicht entziehen.

Sie wollen, dass Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen stärker zusammenarbeiten. Wie?

Während meiner Arbeit als Pfarrer in Düsseldorf haben wir regelmäßig „Runde Tische“ zwischen Diakonie und Kirchengemeinde veranstaltet. Die Zusammenarbeit mit den Kirchengemeinden bietet zwei Vorteile: Sie sind über das ganze Land verteilt und sind damit nah bei den Menschen, und sie haben in ihren Reihen viele Ehrenamtliche, die aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus für andere Dienst tun. Viele ältere Menschen suchen nach solchen Aufgaben. Ein professionelles Ehrenamtsmanagement kann dabei neue Perspektiven eröffnen.

Wie managt man das Ehrenamt?

Ehrenamtliche bringen heute eine Vielzahl von Qualifikationen mit. Sie sind hervorragende Netzwerker, haben gute Ideen fürs Fundraising und sind Öffentlichkeitsbotschafter. Was am wertvollsten ist: Sie bringen Zeit und Motivation mit. Beim Ehrenamtsmanagement geht es darum, dass man ihre Arbeit koordiniert und ihre Anregungen und Kritik in die Organisationsentwicklung einbezieht.

Sie waren tätig als Pfarrer und Leiter eines Hospizes. Was war in dieser Zeit Ihre wichtigste Erfahrung?

Als Leiter des Hospizes bin ich auch von Ehrenamtlichen immer wieder gefragt worden, was angesichts von Sterben und Tod zu sagen ist, also die alte Frage: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“

Für mich ist das eigentliche Wunder, dass diese Welt trotz ihrer Brüchigkeit und der Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten sich immer noch dreht. Dass wir morgens aufwachen, die Sonne scheint und wir leben, empfinde ich fast wie einen Gottesbeweis.

Diese Erfahrung, dass Gott schöpferisch und erhaltend am Werke ist, macht mir Hoffnung, dass Gott auch am Ende unseres Lebens mehr für uns bereithält, als wir uns träumen lassen. Biblische Botschaften haben für viele unserer Mitarbeiter einen Neuigkeitswert. In dieser Unverbrauchtheit liegen auch neue Chancen.

Später wechselten Sie ins Management: Von 2007 bis 2010 waren Sie Superintendent des Kirchenkreises Düsseldorf, danach wurden Sie Vorstand der diakonischen Graf-Recke- Stiftung.

Ich habe diese Aufgaben nicht nur als Management verstanden. Ich habe weiter gepredigt und seelsorgliche Gespräche geführt. Natürlich gehören auch Managementfähigkeiten zu dieser Arbeit, es muss aber deutlich werden, dass man sich vom Manager eines profanen Unternehmens unterscheidet.

Was ist der Unterschied?

Die Leute sollen erfahren, dass ich aus einem Auftrag, aus einer Überzeugung heraus handle. Ich arbeite mit der Hoffnung, dass wir es nicht allein sind, die Kirche und Diakonie bauen, sondern dass da jemand mit am Werke ist, der uns begegnet. Diese Hoffnungsperspektive gibt Gelassenheit, Nachsicht, manchmal auch Humor, und sie lässt mich innehalten, um meine Arbeit kritisch zu reflektieren.

Auch säkulare Unternehmer sind in der Regel hoffnungsvolle Menschen, die über ihre Arbeit nachdenken.

Es ist aber schon ein Unterschied, ob jemand einen Spaziergang macht oder sich in einen Gottesdienst setzt, in dem man sich zusprechen und schenken lässt, was man selber nicht machen kann.

Im Leitbild der Graf-Recke-Stiftung steht die „Goldene Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Matthäus 7,12). Wie würden Sie als Patient eines Krankenhauses der Diakonie gerne behandelt werden?

Ich wünsche mir, dass man sich für mich Zeit nimmt und die medizinischen Möglichkeiten mit mir besprochen werden. Für sehr klug und geistlich halte ich die Frage von Jesus an den blinden Bartimäus: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ (Lukas 18,41). Entscheidend ist nicht, was medizinisch machbar ist, sondern was dem Patienten sinnvoll und lebensdienlich erscheint.

Das sehen Ihre Wettbewerber in staatlichen Krankenhäusern oder bei der Arbeiterwohlfahrt vermutlich genauso. Was unterscheidet die Diakonie von anderen Anbietern?

Wir arbeiten im Auftrag Jesu Christi. Diese Haltung muss sich in unserer Arbeit widerspiegeln.

Was sind derzeit die größten Baustellen in der Diakonie?

Durch die Fusion mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst hat sich die nationale Diakonie mit ihren entwicklungspolitischen Aktionen „Brot für die Welt“ und Diakonie Katastrophenhilfe noch enger mit der internationalen Entwicklungsarbeit verzahnt. Diese Zusammenschau sollte sich in unseren Stellungnahmen widerspiegeln.

Die Präsidentin von „Brot für die Welt“, Cornelia Füllkrug-Weitzel, hat es schön formuliert. Sie bezeichnete die Fusion „als Antwort der Diakonie auf die Globalisierung der sozialen Frage“. Bei Themen wie der Flüchtlingspolitik oder dem Klimawandel kommen wir mit nationalen Antworten nicht mehr weiter.

Zudem wünsche ich mir, dass wir uns von der Behäbigkeit eines Verbandes stärker in eine unternehmerische Richtung entwickeln. Diakonie sollte sich für die vielen kleinen zivilgesellschaftlichen Initiativen öffnen. Bei wichtigen sozialen Fragen werden die Kirchen künftig nur Mehrheiten herstellen können, wenn sie breite Bündnisse eingehen. Auch in der Abstimmung der Öffentlichkeitsarbeit können wir uns noch verbessern. Ich denke, nicht jeder muss zu allem immer zuerst das Richtige gesagt haben.

Die Diakonie fordert unter anderem eine Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik. Wie soll sie aussehen?

Wir können nicht damit leben, dass allein in diesem Jahr vor den Grenzen Europas schon mehr Menschen gestorben sind, als je an der innerdeutschen Grenze umgekommen sind. Das beschädigt die Glaubwürdigkeit des Eintretens für die Menschenrechte, für die Europa steht. Wir sollten mehr Flüchtlinge aufnehmen, und das ist auch ohne weiteres möglich. Zudem müssen wir international dafür sorgen, dass sich die Lebensbedingungen in den Ländern verbessern, aus denen die Menschen flüchten.

Auffällig ist, dass die Diakonie häufig den Staat auffordert, Probleme zu lösen, anstatt es selbst zu tun.

Das ist nicht richtig. Unsere Einrichtungen haben ein hohes innovatives Potenzial. Zum Beispiel haben wir zur Langzeitarbeitslosigkeit eine Fülle von Vorschlägen eingebracht, die wir selbst bereits praktizieren. Zum Beispiel werden im „Kompetenzzentrum Spandau Inklusiv“ des Evangelischen Johannesstiftes Menschen mit Behinderung langfristig in den ersten Arbeitsmarkt integriert. Richtig ist, dass wir die Diakonie nicht nur mit erhobenem Zeigefinger betreiben können. Wir müssen selber zeigen, wie es geht – und das tun wir auch an vielen Stellen. Allerdings brauchen wir dafür eine verlässliche Refinanzierung durch den Staat, ohne die wir nicht auskommen.

Die Diakonie wird zu 98 Prozent von der öffentlichen Hand refinanziert – sie hängt also am Hosenbein von Vater Staat.

Das Bild ist ein wenig schief. Es gibt Aufgaben, die komplett aus kirchlichen Mitteln finanziert werden, wie die Tafelarbeit, oder solche, die von der Kirche stark bezuschusst werden, wie die evangelischen Schulen. Diakonische Altenpflegeheime oder Krankenhäuser finanzieren sich wie alle anderen auch durch Versicherungsleistungen. Wenn man zudem alle ehrenamtliche Arbeit, die in unseren Werken geleistet wird, zusammenrechnen würde, sähe die Bilanz anders aus.

Was die Refinanzierung durch den Staat betrifft: Sie war von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes so gewollt, weil der Staat aus guten Gründen nicht alle Aufgaben selbst durchführen sollte.

Friedrich Wilhelm Graf wirft Diakonie und Caritas eine zu enge Verflechtung mit dem Staat vor.

Diese Zusammenarbeit ist von staatlicher Seite so gewollt und hat sich in der Vergangenheit bewährt. Wie es sich in der Zukunft entwickeln wird, wird sich zeigen. Ich denke aber, dass sich nicht alles durch den Markt regeln lässt. Das sieht man schon jetzt in den ländlichen Regionen. Wenn sich mit der Versorgung kein Geld mehr verdienen lässt, gibt es dort kaum noch Angebote privater oder kommunaler Träger. Das ist nicht der Weg, den die Diakonie bejaht.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 30/2014


Die Diakonie Deutschland ist nach der Caritas der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland. Sie beschäftigt 196 000 vollzeitliche und 253 000 teilzeitliche Mitarbeiter. Zudem engagieren sich etwa 700 000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Der Diakonie angeschlossen sind in ganz Deutschland 28 000 Einrichtungen und Dienste mit 988 000 Betten bzw. Plätzen. Experten schätzen den Jahresumsatz der Diakonie auf etwa 20 Milliarden Euro.