"Freiheitspathos ist abhandengekommen" Kirchentags-Generalsekretärin: Christlicher Begriff von Freiheit setzte Kräfte für '89 frei

Ellen Ueberschär

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30.10.2014 · Berlin.

Das Freiheitsversprechen der friedlichen Revolution in der DDR ist nach Ansicht von Kirchentags-Generalsekretärin Ellen Ueberschär in den vergangenen 25 Jahren abhandengekommen. "Für viele im Osten klingt der Freiheitsbegriff heute wie ein Hohn", sagt die aus Ost-Berlin stammende Theologin. In einem Gespräch begründet sie ihre Auffassung.

Wieso ist der Freiheitsbegriff in Ostdeutschland auf der Strecke geblieben?

 Ueberschär: Freiheit war als das Versprechen von 1989 der Gegenentwurf zu einer unfreien Gesellschaft, wie wir sie in der DDR erlebten, und zugleich die Antithese zur Bevormundung. Aber dieses Verständnis ist den Menschen in den Kerngebieten der Reformation weithin abhandengekommen. Die lutherische "Freiheit eines Christenmenschen" ist heute tief vergraben unter dem volkstümlichen Missverständnis, Freiheit bedeute immer nur, frei zu sein von irgendetwas.  

Was heißt das konkret?

 Ueberschär: Freiheit ist Bindungslosigkeit. Man fühlt sich frei, wenn man sich nicht bindet - weder an einen anderen Menschen noch an ethische oder moralische Werte. Freiheit wird Rücksichtslosigkeit, sie wird zur Freiheit, sich selbst das Leben zu nehmen, der Gier freien Lauf zu lassen oder durch Hinterziehung Steuern zu sparen. Das beschädigt die Freiheit, zumal die christlich gemeinte. Sie schlägt um in ihr Gegenteil.  

Was unterscheidet denn christlich verstandene Freiheit vom landläufigen Freiheitsbegriff?  

 Ueberschär: Christliche Freiheit nach Martin Luther bedeutet zum einen, dass sich Christenmenschen nicht abhängig machen von den Anpassungs- und Sachzwängen dieser Welt. Dies erfahren sie als eine froh machende Befreiung aus gottlosen Bindungen, so hieß es in der Barmer Theologischen Erklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der friedlichen Revolution. In diesem Sinne fuhr beispielsweise Friedrich Schorlemmer in den 80er Jahren mit seinem Wartburg durch die DDR mit einem Aufkleber "egalité, fraternité, Pfefferminztee"... Zum christlichen Freiheitsbegriff gehört aber immer auch das Übernehmen von Verantwortung für andere Menschen und für das Gemeinwohl.

Liegt darin der Schlüssel für das Verständnis der "protestantischen Revolution", wie der Herbst 1989 in der DDR gelegentlich genannt wird?  

 Ueberschär: Ja, unbedingt. Aber heute reicht das Wort von der Freiheit allein nicht mehr aus, um zu sagen, was das Reformatorische an der friedlichen Revolution war. Der erste Schritt war der Mut, Angst und Abhängigkeit zu erkennen und zu überwinden - das haben 1989 und die Reformation gemeinsam. Auf dieser Grundlage konnten Christen verschiedener Konfessionen zur friedvollen Überwindung der kommunistischen Diktaturen einen maßgeblichen und weithin anerkannten Beitrag leisten. Ihr christliches Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit setzte die Kräfte frei, mit denen sie den Freiheitsbedrohungen und -beraubungen der Diktaturen entgegentraten.  

Was folgt daraus für eine demokratische Gesellschaft?  

 Ueberschär: Christlich verstandene Freiheit braucht Mut. Heute bedeutet das, Mut aufzubringen gegen "Einflüsterer", die einen gottfreien Individualismus der permanenten Selbstverwirklichung predigen und zur Verantwortung gegenüber Anderen kein Wort verlieren. Mut zur Freiheit und Mut zu Verantwortung - so könnte eine heutige Kurzformel reformatorischen Selbstverständnisses lauten.

Quelle: epd