Ehepaar aus Vorpommern stellte sich der Schulpflicht entgegen „Schule verdirbt die Kinder!“

Von Sybille Marx

Dass Kinder in der Schule lernen sollten und nicht zu Hause – wir Deutschen finden es selbstverständlich. So selbstverständlich, dass Heimunterricht als Alternative verboten ist.

Foto: epd/Montage EZ/kiz

06.09.2015 · Greifswald/Lindach. Familie Schutsch aus Vorpommern empört sich über die Schulpflicht – und behauptet: Tausende denken wie wir, Tausende würden ihre Kinder gern zu Hause unterrichten. In Deutschland ist das aber verboten. Gut so?

Wenn Ekkehard Schutsch über „normale“ Schulen in Mecklenburg-Vorpommern redet, wird er schnell polemisch. Schon die Kleidung regt ihn auf. „Gucken Sie doch mal, wie manche Lehrerinnen rumlaufen“, sagt der 51-Jährige. „Wie Huren: halbnackt, in Miniröcken und Tiger- Leggins!“ Dann der Sexualkundeunterricht. „Die Kinder kommen mit Heften voller pornografischer Bilder nach Hause.“ Individuell gefördert würden sie dagegen kaum, zu einem Leben mit Gott ermutigt schon gar nicht. Und was sie auf dem Schulhof lernten, seien viel zu oft Schimpfwörter, Lügen, Angst und Gewalt. Ginge es nach Ekkehard Schutsch, würden seine vier Kinder darum zu Hause unterrichtet, von seiner Frau Auri in einem alten Gutshaus in Vorpommern.

Doch es geht nicht nach Ekkehard Schutsch, und darum leben seine Frau und die Kinder Jonathan, Oscar, Matilda und Karl seit ein paar Monaten rund 830 Kilometer von ihm entfernt in Baden-Württemberg – „auf der Flucht“, wie Schutsch es nennt, wenn er sich in Rage geredet hat.

Vor allem das Schulamt Greifswald macht ihn wütend. Wie einen Verbrecher habe man ihn dort behandelt, sagt der Maschinenbauer. Tatsächlich musste Schutsch bis vor einer Woche fürchten, vor Gericht zu landen. Der Vorwurf: Mehrere Monate lang hatte er Matilda und Karl nicht zur Schule geschickt. Dem Schulamt Greifswald erklärte er, man würde sie zu Hause unterrichten – bis eine andere, gute Schule gefunden sei. In Deutschland ist Hausschule aber verboten, das Amt reichte Klage ein.

Bildungspflicht statt Schulpflicht?

Der hessische Rechtsanwalt Dr. Andreas Vogt, den Schutsch einschaltete, kann immer weniger nachvollziehen, warum deutsche Behörden so handeln. In den vergangenen acht Jahren hat er rund 20 Familien aus verschiedenen Teilen Deutschlands vertreten, die wegen Heimunterrichts mit Bußgeldern belegt oder mit Haftstrafen bedroht wurden. „Mir kam das anfangs auch spanisch vor, dass jemand seine Kinder aus der Schule nehmen will“, sagt Vogt. Doch dann habe er überrascht festgestellt, dass Deutschland mit seinem Hausschulverbot eine Ausnahme in Europa bildet, dass fast alle anderen Länder und die USA „Homeschooling“ erlauben – wenn der Lernerfolg staatlich kontrolliert und nachgewiesen wird. Bildungspflicht statt Schulpflicht hält der Jurist darum für besser.

„Es sind ja auch nicht nur religiöse Fundamentalisten, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen“, betont Vogt. „Die meisten, die das möchten, kommen aus der Mitte der Gesellschaft !“ Manche von ihnen fänden das Lernen zu Hause besser, weil es individueller sei, pädagogisch sinnvoller. Andere hätten Kinder, die in Schulen litten oder gemobbt wurden. Und sogar mit einer selbstbewussten 14-Jährigen hatte er zu tun, die zu Hause lernen wollte, weil sie da besser vorankomme. Insgesamt, schätzt Andreas Vogt, unterrichten über 8000 deutsche Eltern ihre Kinder privat. „Es gibt Ämter, die das stillschweigend zulassen, weil sie ja im Grunde wissen, dass das Kindeswohl nicht gefährdet ist.“ Ein Recht auf Hausschule vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof durchzuboxen, hat aber noch keine deutsche Familie geschafft. „Da wurde dann argumentiert: Mit der Hausschule bilden sich Parallelgesellschaften“, sagt Vogt. Schule habe eben auch die Funktion, Kinder in die Gesellschaft einzuführen, sie zu „sozialisieren“, hätten die Richter erklärt.

EKD: "Wir brauchen kein Homeschooling"

Ähnlich sieht man es im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Eine Stellungnahme zum Thema hat das Gremium nie veröffentlicht. Aber die beratende, 20-köpfige Bildungskammer des Rats sei sich einig, sagt Matthias Otte als Geschäftsführer der Kammer: „Wir brauchen kein Homeschooling. Die deutsche föderale Bildungslandschaft ist so vielfältig, dass jeder für sein Kind die passende Schule finden kann.“ Die Fälle, in denen Familien für die Hausschule stritten, seien allesamt „problematisch“. Und natürlich könne man es als Zumutung betrachten, dass der Staat Eltern die Heimschule verwehrt. „Aber diese Zumutung hat einen guten Grund: nämlich, dass Schule integrative Wirkung hat.“ Sie helfe, die Gesellschaft zusammenzuhalten, und das sei wichtig für alle.

Haben wir Deutschen vielleicht Angst, dass vor allem Neonazis, religiöse Fundamentalisten und andere Radikale das Recht auf Heimschule nutzen würden, dass in den Wohn- und Kinderzimmern Gruppen heranwüchsen, die unsere Demokratie bedrohen könnten oder einfach die Durchschnittsvorstellung von dem, was gut und richtig ist? „Keiner hat mir das bisher ins Gesicht gesagt, aber ich vermute, dass solche Befürchtungen eine Rolle spielen“, sagt Vogt.

"Die Schule verdirbt unsere Kinder“

Ekkehard Schutsch umgekehrt lacht auf, wenn er Wörter wie „sozialisieren“ hört. „Das Gegenteil ist der Fall“, meint er. „Die Schule verdirbt unsere Kinder.“ Nicht, dass er und seine Frau von Anfang an gegen dieses Unterrichtsmodell gewesen wären. Als sie 2003 nach Vorpommern zogen, kauften sie ein Haus in Krebsow – so gelegen, dass die ältesten Söhne Jonathan und Oscar die Waldorfschule in Greifswald besuchen konnten. Doch bald tauchten aus Sicht der Eltern die ersten Probleme auf. „Der Unterricht war zu laut, es fehlte die Individualförderung“, meint Schutsch. „Jonathan konnte in der vierten Klasse noch nicht ein Wort schreiben!“ In der staatlichen Grundschule im kleinen Ort Züssow, wo Jonathan, Oscar und auch Matilda als Nächstes hingingen, hätten sich „stalinistische Abgründe in den Gesinnungen der Lehrerinnen“ gezeigt. Dann die zweijährige Orientierungsstufe in der staatlichen Peenetalschule Gützkow: „Die Kinder lernten die Fäkalsprache und den Umgang mit Computerspielen“, schildert Schutsch. Zuhause hätten die Jungs nur noch vor dem Rechner sitzen wollen. Der kleinere sei zudem gemobbt worden, pampig und blutig seien beide oft nach Hause gekommen. Kurz: Über Jahre hatte das Ehepaar Schutsch das Gefühl, dass seine Kinder in der Schule auf ungute Weise beeinflusst würden, jeden Tag neu.

Als Ekkehard Schutsch 2012 die „Global Home School Conference“ in Berlin besuchte, schien sich für ihn eine neue Tür zu öffnen. Der Franzose André Stern habe dort einen überwältigenden Vortrag gehalten zum Thema: „Ich hatte Glück, dass ich nicht zur Schule musste.“ Schutsch erkundigte sich, wie Heimschule in Deutschland rechtlich und praktisch möglich sei, besuchte etwa die christliche Philadelphia-Schule in Siegen (Nordrhein-Westfalen), die Lernmaterialien für den Heimunterricht herausgibt.

Dass das Modell erfolgreich sein kann, hätten verschiedene Heimschulkinder längst bewiesen, sagt nicht nur Philadelphia-Leiter Helmut Stücher. Auch Rechtsanwalt Vogt sieht es so. Die Kinder der Familie Dudek etwa, die er vor Jahren in Hessen vertrat, hätten sicher eine konservativere Lesart der Bibel als die Mehrheit der Christen. Insofern könnte man sie vielleicht als Sonderlinge abtun. „Aber die stehen voll im Leben!“ Nach dem Heimschulunterricht hätten sie Einser-Abschlüsse hingelegt, „jetzt machen sie groß Karriere“. Auch Genies wie Goethe und Mozart seien Hausschüler gewesen, „denn es gab in Deutschland zwar früh Schulgesetze, aber immer auch die Möglichkeit des Heimunterrichts.“ Erst im 20. Jahrhundert, besonders unter den Nazis, habe der Staat darauf gepocht, dass er ein Erziehungsrecht habe. Fragwürdig, findet Vogt. „Meiner Ansicht nach ist die Freiheit, zu Hause zu unterrichten, durch die Menschenrechte gedeckt!“

"Der Herr hat geholfen“

Das Land Mecklenburg-Vorpommern gehört wie Hessen, Hamburg und wenige weitere aber zu den Bundesländern, die es mit der Schulpflicht besonders genau nehmen. „Hier gilt ein Verstoß nicht nur als Ordnungswidrigkeit wie Falschparken, sondern kann strafrechtlich verfolgt werden“, erklärt der Jurist. Ekkehard Schutsch und seine Frau gaben den Plan der Hausschule darum auf und suchten Zuflucht bei der Domino Servite Schule im badenwürttembergischen Lindach, einer freien evangelischen Schule.

Schon nach dem ersten Probetag war Schutsch begeistert. „Mir kamen die Tränen, weil ich gesehen habe, wie Schule auch sein kann.“ Nicht so „lauwarm christlich“ wie andere, nicht so lieblos, sagt er. Die Lehrer legten großen Wert auf christliche Tugenden, „man sieht einfach, dass die auch im Herzen Christ sind und jedes Kind als Geschöpf Gottes betrachten.“ Jeder Tag beginne mit einer Andacht, Gesang, Gebet. Auch Disziplin, Ehrlichkeit und Respekt würden groß geschrieben. „Meine Kinder fühlten sich sofort wohl.“

Vor ein paar Tagen erreichte Schutsch dann ein Schreiben vom Amtsgericht Greifswald: Gegen ihn wird kein Verfahren eröffnet. Aus formalen Gründen. Denn nicht das Schulamt, sondern nur das Bildungsministerium hätte gegen die Familie klagen können. „Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt Schutsch. Und an der Schule in Baden-Württemberg seien nun alle überzeugt: „Der Herr hat geholfen.“

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 36/2015