Ehepaar Gürtler verlässt Greifswald und blickt auf 22 spannende Jahre zurück Dompastor Matthias Gürtler: "Die Kirche muss Profil zeigen"

Gerlinde und Matthias Gürtler wollen im Ruhestand in der Nähe ihrer Kinder und Enkel sein und ziehen nach Biesenthal in der Uckermark.

Foto: Nicole Kieswetter

11.01.2018 · Greifswald. Vor 22 Jahren kam Pastor Matthias Gürtler mit seiner Frau Gerlinde und den fünf Kindern an den Greifswalder Dom St. Nikolai. Nach ereignisreichen Jahren geht Gürtler nun in den Ruhestand und das Ehepaar tauscht die Pfarrwohnung in der Domstraße gegen ein neu gebautes Haus in Biesenthal in der Uckermark. Über ihre Greifswalder Zeit sprach Nicole Kiesewetter mit ihnen.

Herr Gürtler, wir sitzen hier in Ihrem Arbeitszimmer, die Regale sind bis zur Decke gefüllt mit Büchern, Ordner stapeln sich auf Ihrem Schreibtisch – noch keine Zeit für Abschied?

Matthias Gürtler: Unser Haus hat einen Dachboden und einen Keller, da habe ich angefangen mit dem Sortieren. Aber ich frage mich wirklich, wohin mit all den Büchern? Ich bin DDR-geprägt – ich kann Bücher nicht so einfach aussortieren. Aber ich merke jetzt, dass ich einige gar nicht gelesen habe.

Wenn Sie Inventur machen mit Blick auf die letzten 22 Jahre...

Gerlinde Gürtler: ...dann erinnere ich mich daran, dass der Start hier nicht leicht war. Wir wären gern in Eberswalde geblieben.

Matthias Gürtler: Ich habe von 1986 bis 1996 von dort aus die Mittelstelle für Werk und Feier beim Bund Evangelischer Kirchen in der DDR geleitet und konnte an eine blühende Arbeit meines Vorgängers, Kurt Ahlhelm, anknüpfen. Zu meiner Arbeit gehörte zum Beispiel die Weiterbildung von Jugenddiakonen, die Weiterbildung in Predigerseminaren oder die Entwicklung von Arbeitsmaterialien. Dadurch hatte ich auch Kontakte zu vielen Künstlern in der DDR, das war toll. Als diese Stelle durch Veränderungen der Kirchenstrukturen aufgelöst werden musste, sind wir zurückgezogen in die Pommersche Kirche. Gern wären wir in Berlin/Brandenburg geblieben, denn unsere Eltern wurden pflegebedürftig. Aber das war nicht mehr möglich, nachdem ich bereits als Pastor in Pommern gearbeitet hatte: Von 1981 bis 1986 waren wir in Eggesin gewesen, dem damaligen NVA-Standort.

Mein Eindruck war bisher, dass Kirche und Armee für Sie nicht besonders gut zusammen gehen.

Matthias Gürtler:
Wir waren damals Ende 20 und ich bin da mit einer gewaltigen Portion Naivität, aber auch Gottvertrauen hingegangen. Wir hatten den Auftrag, die Kirchengemeinde und die dort stationierten Soldaten zu betreuen. Ich dachte, denen werde ich die Augen öffnen.

Gerlinde Gürtler: Es war schon eine besondere Erfahrung, sich so intensiv um die Soldaten zu kümmern. Ich erinnere mich an unser erstes Weihnachten dort. Wir waren noch gar nicht richtig angekommen, unser erstes Kind gerade ein viertel Jahr alt: Da standen nach der Christvesper zwölf Soldaten vor unserer Tür und sagten, wir wollen mit Euch feiern.

Matthias Gürtler: Ja, sie fanden bei uns einen zivilen und familiären Ort. Doch unter ihnen schlichen sich auch Stasi-Spitzel ein. Später las ich ihre Berichte, sogar Predigtmitschriften, in meiner Akte. Ebenso erfuhr ich von meiner Registrierung unter Kz. 4.1.3.

Gerlinde Gürtler: Die Ablehnung von Kirche war nah zu spüren, das hat schon sehr geprägt. Da haben wir dann nach fünf Jahren entschieden: Hier sollen unsere Kinder nicht zur Schule gehen.

Über Eberswalde sind Sie 1996 nach Greifswald gekommen. War der Dom eine besondere Predigtstelle?

Matthias Gürtler: Zu Beginn habe ich das nicht so empfunden. Als Universitätskirche und Predigtstelle des Bischofs hat der Dom zwar ein besonderes Profil. Aber die Domgemeinde ist ebenso wie die Nachbargemeinden eine ganz normale Stadtgemeinde. Am Anfang fehlte mir allerdings die Kommunikation nach dem Gottesdienst – bis eine an sich eher unspektakuläre Begebenheit den Dingen eine neue Richtung gab.

Gerlinde Gürtler: Ich weiß, Du meinst die Sache mit dem Kirchencafé.

Was war passiert?

Matthias Gürtler: Eigentlich gar nicht viel. Die Organisation des Kirchencafé war schwierig, irgendetwas hakte. Da kam eine unserer Kirchenmitglieder, Cordula Ruwe, und sagte den einfachen Satz: Ich kann mich darum kümmern, wenn Sie wollen.

Gerlinde Gürtler: Es klingt so banal, aber für uns war das in dem Moment eine wunderbare Erfahrung: Da kommt jemand und will helfen. Das war wie ein Wendepunkt für uns.

Im Rückblick, was ist Ihnen gut gelungen?

Matthias Gürtler: Der Kindergarten- Neubau in der Baustraße ist für unsere Gemeinde eine große Errungenschaft. Ich bin froh, dass wir uns nach langen Sitzungen im Kirchengemeinderat für einen eigenen Kindergarten entschieden haben. Heike Leiendecker hat sich bei der Realisierung große Verdienste erworben, und der Kindergarten ist eine Quelle der Gemeindearbeit geworden. Rüstzeiten in der Tradition der DDR-Werkwochen haben wir auch immer gern gemacht. Zur letzten Rüstzeit im Herbst 2017 feierten wir mit siebzig Großen und Kleinen, Alten und Jungen einen Werkstatt-Gottesdienst. Nach einem kreativ gefüllten Wochenende bringen sich hier alle ein.

Frau Gürtler, Ihr Mann sagt häufig deutlich seine Meinung. Haben Sie manchmal gedacht, da hätte er sich jetzt besser zurück gehalten?

Gerlinde Gürtler: Nein, im Prinzip nicht. Wenn er etwas kritisiert, dann aus seinem ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl heraus, und nicht, um seinen eigenen goldenen Stuhl zu putzen. Er könnte es nur vielleicht manchmal etwas weicher sagen.

Matthias Gürtler: Kirche muss politisch sein, unser Profil muss erkennbar sein. Dazu gehört, die herrschenden Verhältnisse immer in Frage zu stellen. Ein gesundes Misstrauen – auch in der Kirche – kann nicht falsch sein. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, dass die Nordkirche nicht gerade dazu beigetragen hat, das Mündigwerden der Gemeinden zu stärken, sage ich das auch. Auch die Folgen des Kapitalismus, wie die Ausbeutung von Natur und Mensch, können uns als Kirche nicht egal sein. Mir lag und liegt der Konziliare Prozeß, das heißt die Bewahrung der Schöpfung, die Gerechtigkeit unter uns Menschen und der Frieden am Herzen. Deshalb hängt am Domeingang auch das Transparent „Schwerter zu Pflugscharen“.

Was lassen Sie hier in Greifswald zurück?

Gerlinde Gürtler: Seit vielen Jahren arbeite ich als Seelsorgerin in der Greifswalder Universitätsmedizin. Von den Patienten, Schwestern und Ärzten wurde mir viel Vertrauen entgegengebracht, das mir trotz aller Schwere den Dienst leicht machte. Das werde ich vermissen. Freunde und Menschen aus der Gemeinde nehme ich im Herzen mit. Und den Wind und die schöne Ostsee werden wir vermissen.

Matthias Gürtler: Und natürlich haben wir in dieser langen Zeit viele Menschen kennengelernt, wir lassen Freunde zurück. Aber wir freuen uns, dass wir unsere Kinder und Enkel in Berlin dann in unserer Nähe haben.

Der Abschiedsgottesdienst findet am Sonntag, 14. Januar, um 14 Uhr im im Greifswalder Dom statt.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 01/2018