Der Wendeherbst in der mecklenburgischen Provinz Von wegen verschlafen

Von Sophie Ludewig

Hier kannte jeder jeden: Demonstrationen in Kleinstädten wie hier in Röbel im Januar 1990 hatten eine besondere Atmosphäre. Dieses Foto wie auch die Fotos auf Seite 5 stammen aus dem Heft „Die Wahrheit wird euch befreien. Dokumente eines Umbruchs“, Röbel/Müritz, Herbst 1989.

© Neues Forum Röbel

26.10.2014 · Röbel. Im „Heißen Herbst“ 1989 gingen die Menschen nicht nur in Berlin, Leipzig und Rostock auf die Straße, um für mehr Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Auch abseits der großen Zentren regte sich Widerstand, wie zum Beispiel in dem damals 6 700 Einwohner zählenden Städtchen Röbel an der Müritz.

Zunächst äußerte sich die Kritik an den Machthabern noch eher indirekt: Im September 1989 tauchten in den kirchlichen Schaukästen und in verschiedenen Röbeler Geschäften Plakate mit Aufschriften wie „Die Wahrheit wird euch befreien“ und „Bleibet im Lande und wehret euch täglich“ auf.

Weil die Plakate keinen Bezug zum Warenangebot aufwiesen, mussten die Ladenbesitzer sie wieder entfernen. Gegen den Aushang im Kirchenschaukasten konnte von offizieller Seite nichts unternommen werden, aber über Nacht war er plötzlich mit schwarzer Farbe überstrichen worden. „Diese Aktion kam selbst bei den Leuten aus Röbel nicht gut an, die sonst gar nichts mit der Kirche am Hut hatten“, erinnert sich Pastor Roland Schaeper.

Wenig später wurde der Wunsch der Menschen nach politischer und gesellschaftlicher Veränderung immer lauter. Im Oktober organisierten Protestanten, Katholiken und Konfessionslose gemeinsam eine „Versammlung für demokratische Erneuerung“, die am 19. Oktober in der St. Nikolaikirche in Röbel stattfinden sollte. Die Resonanz der Röbeler war so enorm, dass die Veranstaltung spontan in die größere St. Marienkirche verlegt werden musste. Auch dort saßen und standen die etwa 1 000 Teilnehmer dicht gedrängt nebeneinander, als sie über die Ausreisewelle, Menschenrechte und das Ministerium für Staatssicherheit diskutierten.

Lethargie abgelegt

Die zweite Versammlung am 26. Oktober zeigte endgültig, dass die Menschen in Röbel und Umgebung aus ihrer politischen Lethargie erwacht waren: Im Anschluss an das Treffen veranstalteten die über 3 000 Beteiligten die erste inoffizielle Demonstration in Röbel, von der Marienkirche bis zum Marktplatz. Auf dem Marktplatz konfrontierten sie die eingeladenen SED-Vertreter mit ihren Forderungen nach einer demokratischen Umgestaltung der DDR. „Die Leute nahmen auf einmal kein Blatt mehr vor den Mund – egal, ob es nun um Reisefreiheit, die Misswirtschaft oder die Privilegien der Parteifunktionäre ging“, erzählt Pastor Schaeper.

Am 4. November durften die Röbeler erstmals offiziell gegen die Verhältnisse in der DDR demonstrieren, auch diesmal nahmen wieder mehrere tausend Menschen daran teil. Kundgebungen allein waren vielen allerdings zu wenig: Im Oktober bildete sich in Röbel eine Regionalgruppe des Neuen Forums, und im Dezember besetzte eine Bürgergruppe die Kreisdienststelle der Stasi. An allen Aktionen, durch die die friedliche Revolution auch nach Röbel gebracht wurde, waren Pastoren und Gemeindemitglieder in besonderer Weise beteiligt.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 43/2014