Buch über die Grenze zwischen Lübecker Bucht und Elbe 1945 bis 1989 erschienen Schweigegeld für ein erschossenes Kind

Von Marion Wulf-Nixdorf

Sandra Pingel- Schliemann betrachtet in ihrem Buch das Geschehen an der innerdeutschen Grenze in den ehemaligen Bezirken Rostock und Schwerin.

© kiz/M.Wulf-Nixdorf

02.03.2014 · Schwerin.

Der jüngste Grenztote war elf Jahre alt. Am 31. Januar 1951 war er Schlittschuhlaufen auf dem Goldensee bei Groß Thurow. Die Grenzsoldaten tolerierten die Kinder, die das immer wieder taten – obwohl es ein Grenzgewässer war und sie es nicht durften. Aber dann kam ein neuer Grenzer und der nahm seinen Auftrag ernst: Er schoss auf die Kinder. Der kleine Hary Atno Krause wurde getroffen. Von westdeutscher Seite aus versuchte man noch, ihn zu retten. Aber vergebens.

Zwei Tage später holte der Vater seinen toten Jungen auf dem Schlitten über den zugefrorenen See zurück in den Osten. Hary wurde auf dem Roggendorfer Friedhof beerdigt. Die DDR wollte diesen Tod vertuschen, bot den Eltern Schweigegeld an. Das lehnten sie ab. Die Folge: 1952 wurden sie aus dem Grenzgebiet zwangsausgesiedelt und durften es nicht mehr betreten. Dabei waren die Eltern gerade sechs Jahre vorher erst aus den ehemaligen deutschen Gebieten in Polen geflüchtet und hatten ihre Heimat verloren. Jetzt hatten sie nicht nur ihren Sohn verloren, sondern zum zweiten Mal ein Zuhause.

Durch die Zwangsaussiedlung konnten die Eltern nicht einmal mehr an das Grab ihres Sohnes. Sie baten eine Bekannte, das Grab zu pflegen. Hary wäre heute 73 Jahre alt. Dies war nicht einmal eine Flucht – es war das Spielen eines Kindes. An ihn erinnert heute nichts mehr.

Dem sterbenden Freund nicht helfen dürfen

Gert Koenenkamp war knapp 16, als er mit zwei Freunden am 5. August 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, morgens um 4 Uhr mit zwei Freunden die Elbe bei Darchau versuchte zu durchschwimmen. Einer der Jungen stammte aus der Gegend, seine Familie war 1961 aus Sumte bei Neuhaus zwangsausgesiedelt worden.

Die Grenzer entdeckten die Jungen und schossen. Der ortskundige Junge schaffte es ans westliche Ufer. Der vermutlich verletzte Gerd Koenenkamp rief seinem Freund Hermann Burkert zu: „Rette mich, hol mich hier raus!“

Hermann Burkert sagt, er hätte dem Freund helfen können, aber der Grenzer, der nur wenige Meter entfernt von ihm stand, drohte, er würde ihn erschießen, wenn er helfen würde. „Dabei hätte ich ihn rausholen können.“ Burkert wurde verhaftet, sein toter Freund fünf Tage später an der Elbe bei Brackede gefunden. Seinem Freund nicht helfen dürfen – damit musste Hermann Burkert, der heute in Schwerin wohnt, ein Leben lang zurecht kommen.

Es sind diese und 25 weitere Geschichten, ganz am Ende des gerade erschienenen Buches, die den Atem zum Stocken bringen. Sandra Pingel- Schliemann, Politologin, 40, hat ein Jahr in Archiven gesessen, 100 000 Seiten an Quellen gelesen und sich mit der 231 Kilometer langen innerdeutschen Grenze zwischen Lübecker Bucht und Elbe zwischen 1945 und 1989 befasst. Sie schloss damit eine Lücke in der regionalen Forschung, wie Anne Drescher, Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, bei der Buchvorstellung sagte. Außerdem hat sie mit vielen Zeitzeugen gesprochen, so mit der Schwester von Hary Krause oder mit Hermann Burkert.

27 nachgewiesene Grenztote

27 Menschen, die an der Grenze in Mecklenburg ihr Leben verloren – 16 ertranken, drei wurden erschossen, drei erfroren, zwei starben durch Splitterminen – bekommen durch Sandra Pingel-Schliemann wieder ein Gesicht.

Drei Männer, selbst Grenzer, alle um die 29 Jahre alt, wurden 1951 hingerichtet. Sie hatten ihre Flucht geplant und wurden verpfiffen. Sie wurden von einem Sowjetischen Militärtribunal in Schwerin verurteilt – nicht nur wegen der Desertion, sondern auch wegen politischer Untergrundtätigkeit, Spionage, Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation und antisowjetischer Propaganda. Alle drei wurden in Moskau erschossen.

Wie viele es wirklich waren, die ihr Leben an und wegen der Grenze verloren, sei bis heute unbekannt, so Sandra Pingel-Schliemann. Verlässliche Zahlen gäbe es nur über die zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer ums Leben gekommenen Menschen: 136 Frauen, Männer und Kinder.

Welche Auswirkungen hatte die deutsche Teilung für die Mecklenburger? Wie gestalteten sich das Leben und der Alltag in den Grenzregionen des Nordens? Wie war das Grenzsystem zwischen Pötenitz und Lütkenwisch aufgebaut? Welche Sperranlagen gab es? Wer beteiligte sich an der Überwachung der Grenze? Wie wirkte das Sicherungssystem? Wie versuchten Menschen, die Grenze zu überwinden – diesen Fragen geht die Politologin in ihrem Buch nach.

In den ersten Jahren nach Kriegsende durfte man noch in den Westen reisen, Lübeck war das Zentrum dieser Region. Noch 1947 gab es eine Buslinie von Hamburg über Lübeck nach Schwerin. Die Menschen konnten sich zu Familienfesten treffen.

Bis 1956 keine Gottesdienste im Schutzstreifen

Erst 1952 wurde eine Sperrlinie an der Grenze angeordnet, Stacheldraht aufgebaut, die Grenzkontrollen verschärft. Es wurden gesonderte Passagierscheine ausgestellt – nur bei lebensbedrohlichen Erkrankungen und Todesfällen durften Verwandte 1. und 2. Grades in das Sperrgebiet einreisen. Bis 22 Uhr durfte man sich im 500-m-Schutzstreifen – im Winter bis 21 Uhr – im Freien aufhalten. Bis 1956 durften keine Gottesdienste im Schutzstreifen gefeiert werden, danach unter erschwerten Bedingungen.

Ein Sechstel der ostdeutschen Bevölkerung flüchtete aus der DDR, das waren 2, 7 Millionen Menschen. In manchen Dörfern gingen bis zur Hälfte der Einwohner in den Westen – Zahlen, hinter jeder einzelnen stehen Menschen und hinter denen wieder Angehörige, Freunde.

Es gab ein fast perfektes Überwachungssystem von den verschiedenen Einheiten der Polizei – vom Wasserschutz über Transport-, Kriminal- und Verkehrspolizei bis zum ABV und der sogenannten „Zivilen Garde“, zeigt Sandra Pingel-Schliemann. So sollten Fluchten verhindert werden. Erschreckend: Jede sechste Festnahme konnte auf Grund von Hinweisen eines dieser „freiwilligen Helfer“ erfolgen, so die Wissenschaftlerin.

Auch der Frage, was mit den Grenztoten passierte, ist Sandra Pingel- Schliemann nachgegangen. Ab 1975 kamen sie nach Schwerin, wurden von dem Gerichtsmediziner Dr. Winfried Wolf obduziert, meist nachts, wenn die Kollegen nicht im Institut waren. Totenscheine wurden verfälscht, damit die Familie nichts herausbekommen konnte.

Strafrechtliche Verfolgung von Todesschützen

Die Autorin beschreibt in ihrer Publikation auch die verwegensten Fluchtversuche und -autos: Mit einem Düngerflugzeug, mit einem selbstgebauten U-Boot oder einem Ballon. Manche klappten. Viele endeten mit dem Tod.

Immer wieder kommt die Frage nach strafrechtlicher Verfolgung von Todesschützen bei diesem Thema auf. So auch bei der Buchvorstellung in Schwerin – bewusst gewählt die ehemalige Untersuchungshaftanstalt am Demmlerplatz, heute Dokumentationszentrum des Landes für die Opfer der Diktaturen in Deutschland.

Nach 1990 gab es in Mecklenburg- Vorpommern 4 775 Strafverfahren gegen SED-Unrecht. Bis 2003 resultierten aus den Ermittlungen ganze 27 Verurteilungen. Nur 12 Verfahren davon betrafen ehemalige NVA-Angehörige – Soldaten, die z.B. auf Flüchtende geschossen hatten, und Offiziere, die an der Verlegung von Splitterminen an der Grenze beteiligt waren, bzw. diese angeordnet hatten.

An diesem Punkt zeigt sich die Schwierigkeit, einen Unrechtsstaat mit den Mitteln eines Rechtsstaates juristisch aufzuarbeiten, so Landesbeauftragte Anne Drescher Aber: Mord verjährt nicht. Nachdem bei den Recherchen zu diesem Buch zwei neue tödlich verlaufende Fluchtversuche bekannt wurden, informierte die Landesbeauftragte die Staatsanwaltschaft. In beiden Fällen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Juristische Aufarbeitung ist das eine, das andere ist das Wachhalten der Erinnerung. Kaum einer kennt die Namen der Grenztoten in den Orten, in denen sie einmal gelebt haben. Müssten nicht endlich Gedenksteine an sie aufgestellt werden? Ihre Geschichten sollten bekannt gemacht werden. Es ist Sandra Pingel-Schliemanns Verdienst, Todesumstände erforscht zu haben.

Erste Gedenkstätte für Grenztote in MV

Geplant ist von der Landesbeauftragten eine Radtour am sogenannten Grünen Band, dem ehemaligen Grenzstreifen. Dabei solle Station gemacht werden an Stellen, an denen Menschen bei Fluchtversuchen starben. Außerdem werde es mehrere Veranstaltungen anlässlich des 25. Jahrestages der Maueröffnung geben. Geplant sei auch, Erinnerungshinweise an Stellen zu schaffen, wo Menschen bei Fluchtversuchen ihr Leben verloren. Eine erste Gedenkstätte für DDR-Grenztote in MV war anlässlich des 30. Todestages von Harry Weltzin (1955-1983) in Kneese eingerichtet worden.

Das Buch (ISBN 978-3-933255-43-3) ist erhältlich für 6 Euro (Schutzgebühr) bei der Herausgeberin, der Landesbeauftragten für MV für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bleicherufer 7, 19053 Schwerin; post@lstu.mv-regierung.de; Tel.: 0385 734006; Fax – 734007

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 09/2014