Bischof Jeremias zum neuen EKD-Papier „Kirche auf gutem Grund“ "Durchaus diskussionswürdig“

Tilman Jeremias: „Wir sind oft zu zurückhaltend beim Formulieren, was christlich heißt und wozu wir als Kirche da sind.“

Foto: A. Klinkhardt

25.08.2020 · Greifswald. Als Ergebnis des Reformationsjubiläums 2017 hat ein von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) berufenes Zukunftsteam elf Leitsätze für eine Diskussion um die Zukunft von evangelischer Kirche in Deutschland Anfang Juni veröffentlicht und dafür Lob und Kritik gleichermaßen erhalten (wir berichteten). Bei Tilman Jeremias, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern, hat Tilman Baier nachgefragt, wie er das Papier beurteilt.

Bischof Jeremias, wie hilfreich bewerten Sie dieses neue Elf-Punkte-Zukunftspapier für Ihren Sprengel Mecklenburg und Pommern?

Tilman Jeremias: Ich bin der EKD dankbar, dass sie dieses Papier vorlegt, weil ich in der Tat die momentanen Herausforderungen für sehr groß halte: Da sind die zurückgehenden Mitgliederzahlen und die deswegen zurückgehenden finanziellen Möglichkeiten – verschärft noch durch die Corona-Pandemie. In allen Landeskirchen ist es darum dran zu überlegen, welche Schwerpunkte gesetzt werden sollen – und auf was wir künftig verzichten. Dafür brauchen wir Maßstäbe – und da halte ich die EKD-Thesen für einen wichtigen Anstoß. Darüber soll nun bis zur EKD-Synode im November diskutiert werden. Auch ich finde, dass es Aspekte in dem Papier gibt, die diskussionswürdig sind.

Wer kann mitdiskutieren?

Ich verstehe den Aufruf der EKD so, dass sich alle zu diesen Leitsätzen äußern können. Also, liebe Leserinnen und -leser: Schaut euch das Papier im Internet an oder fordert es von der EKD an und beteiligt euch an dieser Debatte!

Was ist Ihrer Meinung nach besonders diskussionswürdig?

Einerseits halte ich die Stichworte dieser elf Leitsätze für sehr hilfreich in der Diskussion, wie Digitalisierung, aber auch Mission und Frömmigkeit. Ich finde gut, dass auch diese in dem Papier vorkommen. Das Papier heißt ja „Auf gutem Grund“. Doch aus meiner Sicht wird dieser gute Grund zu zurückhaltend oder kaum benannt. Und das macht dieses Papier für mich so unbestimmt, so schwebend. Wir haben ja Bibelverse, die davon sprechen, was solch ein Grund ist, die hätte man zitieren können. Dieser Kritikpunkt wurde auch schon beim vorangegangenen Reformprozesspapier „Kirche der Freiheit“ laut, das vor 14 Jahren erschien. Es scheint mir ein Problem zu sein, dass wir so zurückhaltend formulieren, was „christlich“ heißt und wozu wir eigentlich als Kirche da sind. Warum sagen wir nicht einfach „Wir sind eine Gemeinschaft von Glaubenden, wir versammeln uns um das Wort Gottes und die Sakramente“, bevor wir darüber nachdenken, wie das zu organisieren ist. Mein Verdacht ist, dass da die Angst ist, wir könnten jemand verschrecken, wenn wir zu viel von Gott oder Jesus reden oder vom Beten und solchen Dingen. Aber das ist doch das, was uns ausmacht. Das sollten wir nicht so schüchtern weglassen.

Es gab bereits in der Kirchenzeitung die Kritik, dass Kinder und Jugendliche in den Thesen nicht vorkommen.

So ist es. Die tägliche Arbeit der Kirchengemeinden tritt allgemein zu wenig zutage. Es kommen auch die Kasualien nicht vor, also Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, die wichtig sind für die Gemeinden vor Ort. Ich halte das für keinen Zufall. Denn in dem Zukunftspapier wird auch gesagt, dass die Strukturen der Ortsgemeinde in Zukunft nicht mehr die dominierenden sein werden, sondern dass sich flexiblere Formen des Gottesdienstes und der Gemeinde entwickeln werden. Mir ist jedoch die kirchliche Basis weiterhin etwas ganz Zentrales – und das ist die Ortsgemeinde, wo sich die Menschen versammeln und füreinander da sind. Das ist ja gerade in der Pandemie wieder deutlich geworden. Es waren die Kirchengemeinden und die diakonischen Einrichtungen vor Ort, die den ersten Kontakt wiederhergestellt und ganz kreativ versucht haben, die Menschen zu erreichen. Dagegen hatten es allgemeinkirchliche Dienste und Werke sowie die leitende Ebene schwerer, an die Menschen heranzukommen.

Woher kommt die Verschiebung weg von der Ortsgemeinde?

Da spielen viele Aspekte hinein. Einer ist die Vorstellung, dass das Traditionelle, der Sonntagsgottesdienst, nur noch von Älteren gewollt ist und damit kaum noch Relevanz hat. Ich finde dies zu kurz gedacht. Es ist schön, wenn wir neue Gottesdienstformen ausprobieren. Es ist ja richtig, dass wir uns Gedanken machen, wie wir junge Menschen erreichen. Aber dann zu sagen, das System Ortsgemeinde ist überholt, das geht mir zu weit. Die Ortsgemeinde ist ja in einem großen Wandel begriffen. Schon durch das ständige Schaffen größerer Strukturen ist sie in ständiger Erneuerung begriffen. Wir brauchen die Ortsgemeinde, um dauerhaft für die Menschen vor Ort da sein zu können.

Steckt dahinter nicht auch ein Unterschied der Sichtweise von Kirche in den großen Städten und im ländlichen Raum?

Ja, aus dem Papier spricht eine Kultur, die eher die städtische Bevölkerung im Blick hat und darunter auch Milieus, die die klassischen Kirchengemeinden zu wenig im Blick haben. Das sind vor allem junge Leute sowie Menschen, die einfach Wert auf Flexibilität legen und ganz spontan die Entscheidungen treffen möchten, wo sie morgen hingehen. Dazu passen flexiblere Formen. Kirchliche Arbeit auf dem Land ist dagegen viel eher auf Kontinuität ausgerichtet, auf die persönlichen Kontakte in unseren Dörfern.

Findet sich die Wirklichkeit von MV in den elf Leitsätzen wieder?

Wie gesagt, ich finde etliches sehr hilfreich. Stichwort Frömmigkeit: Ja, wir tun gut daran, uns klar zu werden über die eigene Glaubensgrundlage. Dass wir uns austauschen, was für die nächste Zeit an unserem Glauben wichtig ist, und deutlich sagen, was uns wirklich trägt und auf welcher Basis wir stehen. Ich finde aber in der Tat in unserem ländlichen, weiten Gebiet eher eine andere Kultur vor, als ich sie aus dem Papier entnehme, sprachlich, aber auch in unseren Arbeitsformen. Für mich ist das Zentrum unserer kirchlichen Arbeit das gottesdienstliche Geschehen, die Versammlung um Wort und Sakrament. Und darum finde ich auch alles, was den Sonntagsgottesdienst schwächen will, wenig hilfreich. Er ist unsere Mitte, auch wenn wir uns mehr Besuch wünschen. Das, was in den Leitsätzen als „Vereinskirche“ abgewertet wird, das halte ich auch für einen wesentlichen Bestandteil unseres Kircheseins: Dass wir Bibelkreise haben, Seniorenkreise, Christenlehregruppen und andere Kreise, die sich regelmäßig treffen, um Glaubensthemen zu bereden, ist für mich nicht Vereinsmeierei, sondern gelebter Glaube. Erfreulich finde ich, dass Ehrenund Hauptamtliche nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Ich erlebe so viel Engagement und Kreativität in beiden Gruppen.

Nun gehört zwar Ihr Sprengel zur gemeinsamen Nordkirche. Doch es gibt ja auch die Prägung durch 40 Jahre Kirchesein in der DDR und nun in Ostdeutschland. Wie weit ist dies in den Leitsätzen berücksichtigt?


Ohne alte Mauern hochzuziehen, ist ein wesentlicher Unterschied in der Geschichte und Entwicklung unserer Kirchen, dass in den 70er- und 80er-Jahren in den westlichen Landeskirchen sehr viel mehr übergemeindliche Strukturen aufgebaut wurden, Dienste und Werke, als wir das im Osten kennen. Und in der Nordkirche wird mir auch ganz richtig gesagt, dass diese Dienste und Werke eine eigene Form des Kircheseins sind neben der Ortsgemeinde. Und das spricht ja auch aus diesem Papier. Das ist etwas, dass wir als Kirche in MV so nicht in diesem Maße erfahren. Die meisten unserer Mitglieder sind in ihrer Ortsgemeinde beheimatet. Ich würde mir da wünschen, dass unsere Lebenswirklichkeit im Osten noch stärker in den Blick genommen wird.

Wie wird der Prozess weiter verlaufen?

Es gibt eine Arbeitsgruppe in der Nordkirche, die sich Zukunfts-AG nennt. Wir stehen da ganz am Anfang. Sie wird uns jetzt in der Kirchenleitung ein Prozessdesign vorstellen. Es ist daran gedacht, das man thematische Gruppen bildet, aber auch die regionalen Unterschiede mit einbettet. Diese sind dann in einem Gespräch darüber, was in den einzelnen Sprengeln der Nordkirche unterschiedlich ist. Wir sind in unserer großen Nordkirche sehr unterschiedlich geprägt, und das macht ja den Reichtum und die Schönheit unserer Kirche aus. Aber darum müssen wir auch immer wieder aufeinander hören. Darum lade ich alle in diesem Sprengel ein, sich an dieser Debatte zu beteiligen.

Das Diskussionspapier „Kirche auf gutem Grund“ gibt es hier

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 34/2020