BethanienstiftungDie Geschichte Bethaniens

Sozialarbeit in Mecklenburg: Das Gutsbesitzerehepaar von Oertzen richtete um 1845 Kleinkinderschulen und später ein Heim für Jungen ein.

Rund dreißig Kilometer östlich von Neubrandenburg liegt das Dorf Rattey. Das ehemalige Gutshaus in einem Park mit 700‑jährigen Eichen ist aufwändig zu einem Schlosshotel umgebaut worden. 1832 bis 1867 wirkte hier das Ehepaar Adolf und Bertha von Oertzen. Beide waren im Sinne ihres christlichen Glaubens von dem Wunsch erfüllt, Gutes zu tun. Dabei stellte Bertha v. Oertzen zwar die treibende Kraft dar, ihr Mann aber hatte die Mittel aufzubringen, damit ihrer beider Hoffnungen und Pläne in Erfüllung gehen konnten.

Bertha v. Oertzen drängte darauf, in ihren Gutsdörfern Rattey und Brohm "Kleinkinderschulen" einzurichten, die ersten ländlichen Kindergärten Mecklenburgs. Heute mag es fraglich erscheinen, ob dafür auf dem Land überhaupt ein Bedarf bestand. Sicher ist, dass fast alle Frauen der Dörfer in der Gutslandwirtschaft tätig waren, dass sie für meist große, kinderreiche Familien zu sorgen hatten, für eigenes Vieh und eigene Gärten. Es gab zwar ältere Menschen, die sich vielleicht um Kinder hätten kümmern können, aber auch sie mussten sich in Haus und Garten nützlich machen, um zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen.

Ein gewagter Schritt

Zunächst setzte es Bertha von Oertzen bei ihrem Mann durch, dass die Frauen der Dörfer am Samstagnachmittag nicht für das Gut zu arbeiten brauchten. Im Jahr 1843 schuf sie zwei „Kleinkinderschulen" für die Dörfer Rattey und Brohm nach den damals neuesten pädagogischen Erkenntnissen. Friedrich Fröbel, der Urheber der Kindergartenidee in Deutschland, hatte erst drei Jahre zuvor einen Aufruf zur Einrichtung von Kindergärten ergehen lassen. Die Aus‑ und Fortbildung der in den Kleinkinderschulen tätigen jungen Frauen übernahm Bertha v. Oertzen selbst, teilweise zusammen mit einer Erzieherin.

Im Jahr 1840 hörte Adolf von Oertzen von dem durch Johann Hinrich Wichern in Horn bei Hamburg gegründeten "Rauhen Haus", einem Versuch, sozial gefährdeten Jungen eine Heimat zu bieten und zu ihrer Resozialisation beizutragen. Er berichtete seiner Frau davon, und beide waren fortan von dem Wunsch erfüllt, ebenfalls ein „Rettungshaus" zu gründen. Die Realisierung dieses Planes erwies sich jedoch als schwierig. Es musste ein Gebäude errichtet werden und es war eine Stiftung ins Leben zu rufen, die vom wirtschaftlichen Ergehen des Gutes Rattey möglichst unabhängig sein sollte. Diese Stiftung hatte das Gehalt mindestens eines geeigneten Erziehers und teilweise auch den Unterhalt der betreuten Jugendlichen aufzubringen. Das aber war nur durch ständig fließende Spenden möglich, und es lag nahe, dass das Ehepaar v. Oertzen den größten Teil davon würde selbst aufbringen müssen. Obgleich in den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts für die Landwirtschaft günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen bestanden, stellten die Gründung und Unterhaltung einer solchen Anstalt auf privater Basis eine erhebliche finanzielle Belastung dar. Auch ein Besuch Johann Hinrich Wicherns in Rattey konnte Adolf v. Oertzen zunächst nicht dazu veranlassen, seine Zustimmung zu diesem gewagten Schritt zu geben.

Die Tochter des Ehepaars v. Oertzen, Luise v. Voss, schreibt in ihren Erinnerungen über die Zeit unmittelbar vor der Gründung des Rettungshauses: „Die Mutter ist elend, sehr elend, und ihre wenige Kraft gehört der fortlaufenden Ausbildung der Mädchen, die die Betreuung in den Kleinkinderschulen übernehmen. Ihre Gedanken und Gebete aber haben nur ein Ziel, die Errichtung eines Rettungshauses für Mecklenburg-Strelitz. Und tatsächlich, während eines Landtages gibt der Vater seiner Bertha ‑ gewissermaßen als Trost für ihre körperlichen und seelischen Leiden ‑ in einem Brief das Versprechen, ein Rettungshaus zu bauen. Im selben Augenblick ist Bertha gesund und entfesselt einen brausenden Strom der Tätigkeit."

Familiäre Geborgenheit

Am 7. September 1851 wird in Rattey das Rettungshaus für Jungen eingeweiht, das den biblischen Namen "Bethanien"1) erhält. Sein Leiter ist der pädagogisch sehr befähigte, im „Rauhen Haus" ausgebildete Diakon Heinrich Krüger. Im ersten Jahr des Bestehens von Bethanien werden von ihm zwölf Jungen betreut, im zweiten Jahr schon 21. Nach einer Erweiterung des Gebäudes und der Einstellung eines „Gehülfen" können zwei „Familien" mit jeweils zwölf „Pfleglingen" gebildet werden. Diese sind zwischen 11 und 17 Jahre alt. Grundsätzlich sollen sie bis zu ihrer Konfirmation und das heißt damals: bis zu ihrem Eintritt in die Berufsarbeit betreut werden. Heinrich Krüger, der mit seiner Frau und eigenen Kindern im Haus und fast ständig mit den Jungen zusammen lebt, schreibt damals, dass „ein wirkliches Familienleben erstrebt wird, worin sich die einzelnen Persönlichkeiten frei entwickeln können." Tatsächlich scheint die Schaffung familiärer Geborgenheit gelungen zu sein; denn Krüger berichtet schon wenige Jahre später im Blick auf ehemalige Pfleglinge: „Wir waren nur wenige Sonntage ohne Besuche von Jünglingen, die hier wie Kinder in ihr Elternhaus einsahen."

Im Jahr 1853 wird in Rattey auch ein Rettungshaus für Mädchen gegründet, das den Namen „Bethlehem"2) erhält. Es besteht jedoch nur relativ kurze Zeit, weil das Hauselternpaar sich als ungeeignet erweist und weil schon die Erhaltung eines Rettungshauses sich immer mehr als schwere finanzielle Belastung des Gutes erweist.

Als Adolf v. Oertzen im Jahr 1867 stirbt, ohne ein Testament zu hinterlassen, kann das inzwischen stark verschuldete Gut Rattey das Haus „Bethanien" nicht länger tragen. Auf Betreiben Bertha v. Oertzens gründet der Strelitzer Großherzog die Anstalt mit ihrer bewusst christlichen Zielsetzung im Jahr 1872 in Neubrandenburg neu – „in der Vorderstadt nahe am Wall". Die Mittel dafür werden durch private Spenden, einen von der Herzogin Caroline veranstalteten Basar und durch Kirchenkollekten aufgebracht. Die Erzieher und die Jungen ziehen von Rattey nach Neubrandenburg um. Bethanien wird nun zu einer vom Konsistorium der Evangelisch-Lutherischen Kirche beaufsichtigten Stiftung, später zu einem Teil der „Inneren Mission". Um die Einrichtung in ihrer wirtschaftlichen Existenz abzusichern, kauft der Stiftungsvorstand mehrfach Grund und Boden. Dadurch entsteht eine Art Bauernhof, dessen Ertrag dem Unterhalt Bethaniens dient. Etwa zehn Prozent der betreuten Jugendlichen werden dem Haus aus dem Gefängnis zugewiesen. Das war auch schon in Rattey der Fall.

In Neubrandenburg

Die Erinnerungen einer der Töchter von Bertha und Adolf v. Oertzen, Luise v. Voss, sind 1999 von einem Nachfahren im Hinstorff‑Verlag als ansprechendes Bändchen herausgegeben worden. Sie tragen den Titel „Mit heißen Thränen ging ich zu Bette". In ihnen wird vor allem das Leben des Ehepaars v. Oertzen und seiner Kinder geschildert. Am Ende heißt es: „Bertha stirbt im Alter von 73 Jahren. Bei der Beerdigungsfeier singt ein Chor aus Bethanien. Es ist zwar ein anderes Bethanien als das in Rattey, aber doch ‑ ihr Kind." Wieviel persönliches und finanzielles Engagement das Ehepaar v. Oertzen aufgebracht hat, um zu helfen, können wir heute nur noch ahnen.

Seit dem 19. Juli 1872 besteht Bethanien in Neubrandenburg weiter. jetzt deckt es seinen Unterhalt großenteils aus einer eigenen Landwirtschaft. Die Kinder und Jugendlichen müssen jedoch keineswegs nur auf dem Feld arbeiten. Vor allem werden sie ‑ so weit irgend möglich ‑ auf das Erlernen eines Berufes vorbereitet. Eine Übersicht zum 25. Jahrestag der Gründung Bethaniens weist aus, dass von den 136 bis dahin betreuten Jungen nach ihrer Entlassung 71 als Arbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen, 34 als Handwerker, andere als Schiffer, Gärtner, Soldaten, Kaufleute, Lehrer. Es wird nicht verschwiegen, dass bei etwa sechs Prozent die Resozialisation bis dahin nicht gelungen zu sein scheint, weil diese jungen Männer ‑ in den Jahren nach ihrer Betreuung in Bethanien ‑ Gefängnisstrafen erhalten.

Im Jahr 1914, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zieht Bethanien abermals um – in ein neues, stattliches Gebäude auf dem „Kupfermühlenberg" bei Neubrandenburg. Dort liegen jetzt auch die meisten landwirtschaftlich genutzten Grundstücke Bethaniens. Der Kupfermühlenberg wird dadurch im Volksmund nach und nach zum „Bethanienberg". Das dortige Gebäude steht noch heute und beherbergt derzeit das Landesbauamt. Leider weist nichts darauf hin, welcher Bestimmung es einmal diente. Das Haus war für die Betreuung von etwa 65 sozial gefährdeten Jungen und Mädchen ausgelegt. Die dazu gehörende landwirtschaftliche Nutzfläche Bethaniens betrug zuletzt rund 30 Hektar. Bis in die Zeit des Nationalsozialismus blieb Bethanien ein selbstständiger Teil der Inneren Mission der Evangelisch‑Lutherischen Kirche.

Für immer abgeschlossen

In den Dreißigerjahren beginnt die Gleichschaltung der Stiftung im Sinne des Nationalsozialismus. In einer Hauptversammlung des Stiftungsvorstandes vom 15. Oktober 1936 wird einstimmig beschlossen, der Anstaltszweck liege darin, „charakterlich und sittlich gefährdete Knaben und Mädchen... für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft zu erziehen". Zu dieser Sitzung sind allerdings die drei zum Vorstand gehörenden Pastoren nicht erschienen. Der alte Vorstandsvorsitzende tritt zurück und wird durch einen nationalsozialistischen Stadtrat ersetzt. 1938 verliert die Anstalt ihren bisherigen Namen. Am 12. Oktober schließen das „Erziehungs‑ und Kinderheim Neubrandenburg", vertreten durch seinen nationalsozialistischen Vorsitzenden, und die NSV e. V Berlin (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) einen Vertrag, mit dem das zuvor für aufgelöst erklärte Heim mit seinem gesamten Grundbesitz in das Eigentum der NSV übergeht.

Im Jahr 1945 konfisziert die sowjetische Militärregierung das „Haus Bethanien" als Nazivermögen und übereignet es dem Land Mecklenburg. Das Gebäude auf dem „Bethanienberg" dient zunächst als Kinderheim, dann als Internat der Neubrandenburger Oberschule und ab 1955 als Dienstgebäude der Volkspolizei. Die Kirche stellt sowohl 1946 als auch nach der Wende den Antrag, die Stiftung wiederherzustellen. Er wird abgelehnt. Heute ist das Vermögen der ehemaligen Stiftung sowohl in staatlichem als auch privatem Besitz. Auf einem Teil des Grund und Bodens wurden im neuen Gewerbegebiet „Bethanienberg" z. B. die Gebäude finanzstarker Supermarktketten errichtet. Im Sinne des Ehepaars v. Oertzen und unzähliger Menschen, die dem Haus Bethanien fast ein Jahrhundert lang Spenden zukommen ließen, ist das sicher nicht.

Christoph von Lowtzow

[Quelle: Zeitungsartikel ‚Das Rettungshaus in Rattey‘ im Mecklenburg Magazin – der Regionalbeilage der SVZ und der NNN vom 17. Dezember 1999 /Nummer 50; Autor des Artikels: Christoph von Lowtzow]