Bachwoche besuchte Stettin Zurück zu einer Wurzel

Von Marion Wulf-Nixdorf

Die Friedenskantate „Pro Pace“ von Jochen A. Modeß erklang von Chören aus vier Ländern in der Jakobskathedrale in Stettin.

Foto: R. Neumann

19.06.2016 · Greifswald/Stettin. Die Greifswalder Bachwoche, die in diesem Jahr ihr 70. Jubiläum feiert, begann mit einer Flucht. Annelise Pflugbeil brachte die Idee zu diesem Musikfest 1945 aus ihrer Geburtsstadt Stettin mit. Am vergangenen Montag kehrte die Bachwoche für einen Tag dorthin zurück.

Die große Jakobskathedrale im Zentrum Stettins ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Mindestens eine halbe Stunde vor Beginn sollte man da sein, hatte es geheißen, um sich einen guten Platz zu sichern. Es ist das Eröffnungskonzert des X. Internationalen Chorfestes Stettin – und zugleich ein Programmpunkt der diesjährigen 70. Bachwoche. An die 200 Deutsche sitzen in den Reihen. Morgens waren sie mit vier Bussen aus Greifswald gekommen, nun haben sie schon einen Bachwochentag mit Morgenmusik und Nachmittagskonzert in der polnischen Großstadt hinter sich, samt einer ausführlichen Stadtführung.

Aus dieser einst deutschen Stadt war Bachwochen-Mitbegründerin Annelise Pflugbeil 1945 vor dem Einmarsch der Russen geflohen, mit ihrem Cembalo, einigen Instrumenten und Noten aus der Kirchenmusikschule im nahe gelegenen Finkenwalde. In Stettin hatte es 1943 unter Leitung von Theo Blaufuß eine erste (und letzte) Bachwoche gegeben, die dann 1946 in Greifswald weitergeführt wurde.

Die polnischen Besucher erkennt man beim Hereinkommen in die Jakobskathedrale am Eintauchen der Finger ins Weihwasser. 90 Prozent der über 400 000 Einwohner Stettins sind katholisch. Bis zum großen Bevölkerungsaustausch nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stadt durch die deutschen Einwohner noch protestantisch geprägt. Auch die Jakobskathedrale war früher evangelisch.

Pro Pace, eine Friedenskantate

Heute ist die 1943 zerstörte, 1971 wieder aufgebaute und dann katholisch geweihte Backsteinkirche international und ökumenisch gefüllt. Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus vier Ländern führen unter anderem gemeinsam ein Werk des Greifswalder Kirchenmusikdirektors und künstlerischen Leiters der Bachwoche, Jochen A. Modeß, auf: Pro Pace, eine Friedenskantate. Als Auftragswerk des Braunschweiger Landeskirchenmusikdirektors Claus-Eduard Hecker für ein Gedenkkonzert zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges entstanden und vom dortigen und einem englischen Chor uraufgeführt, singen es heute Greifswalder Domchorsänger und der Jugendchor gemeinsam mit den Knaben des Posener Domchors und dem Chor von St. Johannis Riga. Mit dabei sind die Sänger der Uraufführung: der Chor von St. Katharinen Braunschweig und die Southern Voices aus Winchester in England.

Wie oft bei Werken von Modeß wird das Publikum einbezogen und darf das „Verleih uns Frieden gnädiglich“ mitsingen. Es ist gewaltiger Gesang, der diese hohe Kirche füllt, eine große Bitte, die hier in Polen in einer ehemals von Deutschen bewohnten Stadt in einer katholischen, ehemals evangelischen Kirche erklingt.

Gedenkkonzert für Annelise Pflugbeil

Mit diesem Konzert endet ein ganz besonderer Tag. Gehörte schon seit vielen Jahren ein Ausflugstag zum Programm der Bachwoche, so ging es aber bisher noch nie über eine Ländergrenze. Die Morgenmusik hatte in der heute einzigen evangelischen Kirche Stettins stattgefunden – die man auf dem Stadtplan vergeblich sucht, zumindest auf dem, den einige Besucher mit dabei hatten. Leider kamen zu der Musik kaum Polen. Es fehlte auch ein Bus aus Greifswald – er war bei der Grenzkontrolle durch polnische Beamte aufgehalten worden und schaffte es nicht mehr rechtzeitig.

Das Nachmittagskonzert mit dem „Leipziger Concert“ unter der Leitung von Siegfried Pank, der zum 45. Mal an einer Bachwoche musizierend teilnahm, fand im Priesterseminar statt – leider ohne Priesterstudenten. Ein Platz während der 70. Bachwoche blieb leer: Die „Mutter der Bachwoche,“ Professorin Annelise Pflugbeil, war 97-jährig im November 2015 gestorben. Das Eröffnungskonzert am vergangenen Sonntag war ihr gewidmet und am Donnerstagabend wurde bei der Großen Kammermusik „L‘ Annelise“ von Jochen A. Modeß uraufgeführt – eine Verneigung.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 25/2016