Erinnerungskultur Daniel Stein Kokin: „Zu viel Holocaust-Gedenken ist nicht gesund”

Von Daniel Stein Kokin

Das Vernichtungslager Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 von sowjetischen Truppen befreit, heute ist es eine Gedenkstätte.

© epd-bild/eastway.de

27.01.2015 · Greifswald. Wer „Jude“ hört, denkt „Holocaust“. Zig Gedenktage weltweit erinnern an die Verbrechen der Nazis und ihre jüdischen Opfer. Vielleicht schon zu viele Tage, sagt der Jude Daniel Stein Kokin, der in Berlin lebt und in Greifswald lehrt. Diese Verengung auf das Leid schade Israel – und den Deutschen.

Für mich gibt es vier Tage im Jahr, die einer besonderen Erinnerung an die Shoa, den Holocaust, vorbehalten sind. Erstens den israelischen Yom ha-Shoa, wörtlich „Tag zur Erinnerung an den Holocaust“, der an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnert und im Frühjahr liegt. Zweitens den jüdischen Tischa be-Aw, der in die Zeit des Hochsommers fällt und das Gedenken an verschiedene Tragödien der jüdischen Geschichte in sich vereint; drittens die Reichspogromnacht im Herbst und viertens den heutigen internationalen Holocaust-Tag, der eigentlich keine sehr große Resonanz innerhalb der jüdischen Welt hat.

Jede Jahreszeit hält demnach für mich einen Shoa-Gedenktag bereit. Weitere Termine kommen hinzu – wie zum Beispiel die Erinnerungstage an die Deportation von Juden aus verschiedenen Regionen; bestimmte Gottesdienste, in denen die Shoa erwähnt wird; ganz zu schweigen von jeder zufälligen Begegnung mit einem Stolperstein, von denen man in meinem Berliner Kiez sehr viele finden kann. Fügt man alle Zeitungsartikel, Notizen über Vorträge und Tagungen, Filme und so weiter hinzu, bleibt kaum ein Tag übrig, an dem die Shoa nicht in Erinnerung käme.

Ist das gut so? Und – ist das nötig? Wie empfinde ich die Erinnerungskultur im heutigen Judentum und im heutigen Deutschland? Und was erwarte ich als Mensch und Jude von der Bevölkerung dieses Landes? Ich muss gestehen: Gegenüber dem Holocaust-Gedächtnis bin ich ziemlich skeptisch. Ohne Frage muss ein solch enormes Verbrechen für immer in Erinnerung bleiben. Doch gleichzeitig müssen wir unsere Erinnerungskultur von Zeit zu Zeit überprüfen.

„Stolpersteine sind die mutigste Form“

Ich fange damit im jüdischen Kontext an: Während der letzten zwei Generationen wurden zahlreiche Holocaust-Museen oder Denkmäler in jüdischen Gemeinden weltweit eingeweiht. Vor allem in Israel sind Schulreisen zu den KZ-Lagern in Polen verbreitete Praxis. Es gibt heute Israelis, deren einzige Auslandserfahrung Auschwitz heißt. Ich fürchte, dass unsere Identität dabei viel zu stark von der Shoa geprägt wird, dass wir das Jude-Sein immer mehr von der Shoa her verstehen, und dass wir den Staat Israel vorrangig unter Bezug auf die Shoa betrachten.

Das aber ist eine bedauerliche Herabsetzung unserer Religion und Geschichte. Es schadet uns, wenn wir uns immer wieder auf das konzentrieren, was uns angetan wurde, statt auf das, was wir in der Welt beigetragen und noch anzubieten haben.

Hier in Deutschland ist die Lage in mancher Hinsicht sehr beeindruckend. Zwar berührt mich das Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas nicht sehr. Allein der Name verströmt Passivität und Distanz (ermordet wann und warum, und vor allem von wem?). Die Bereitschaft, ein solches Denkmal mitten im Zentrum von Berlin zu errichten, verdient aber hohe Anerkennung. Was damit gleichsam im geographischen Herzen der deutschen Nation verankert ist, entfaltet sich mit dem Stolper- stein-Projekt noch einmal an vielen verschiedenen Orten. Das ist die allermutigste Form des Gedächtnisses, die ich kenne. Hier wird die Erinnerung direkt vor der Haustür wachgerufen und in den Alltag eingebunden.

Noch beeindruckender finde ich die Tatsache, dass von den etwa 50 000 Stolpersteinen bisher nur etwa 100 herausgerissen worden sind – eine erstaunlich niedrige Zahl. So erzählte es mir im letzten Oktober Gunter Demnig, der Erfinder und Hersteller dieser Steine, anlässlich seines Besuches in der Stadt Greifswald. Während die Stelen des Berliner Denkmals völlig leer sind, informieren Demnigs kleine Messingziegel ganz unmittelbar über die Ermordung ehemaliger Anwohner und Nachbarn.

Aber ist der Anspruch der Stolpersteine letztlich nicht doch ein Stück zu hoch? Lässt sich eine solche dezentralisierte Art des kollektiven Gedächtnisses tatsächlich auf lange Sicht bewahren? Werden die Steine auch in den kommenden Generationen gepflegt werden? Und ist es nicht vielleicht irgendwann zu viel, diese Erinnerung stets und ständig vor Augen zu haben? Wohin führt die intensive und dauerhafte Beschäftigung mit dem Holocaust in Deutschland?

Schürt ein Zuviel nicht Israel-Feindschaft?

Als Jude, der sich als ein „Zionist“ und „Diasporist” versteht – für mich sind die Existenz des Jüdischen Staates und die Präsenz des Judentums in der Zerstreuung von gleichem Wert – stelle ich die Frage nach den Implikationen des Holocaust-Gedächtnisses in Deutschland zugegebenermaßen auch aus einem praktischen Grund. Ich vermute, ohne das im Einzelnen belegen zu können, dass dieses anhaltende Engagement auch eine bestimmte Form der Israel-Feindschaft erzeugen kann.

Damit will ich weder sagen, Israel solle immun gegen Kritik von außen sein, noch will ich die Existenz unserer eigenen Extremisten verleugnen (oder andere Quellen für solche Ressentiments bestreiten). Ich fürchte nur, dass die Israel-Kritik ein anlockendes Ablassventil für Schuldgefühle bezüglich der Juden sein kann.

Für mich stellt es deshalb eine sehr schwierige und sensible Frage dar, wo, wann und auf welche Weise über den Holocaust zu reden ist. Aber ich bin zunächst Mensch und erst dann Jude und kümmere mich selbstverständlich auch um das Wohl der deutschen Gesellschaft . Und in diesem Kontext stellt sich der wichtigere Grund für meine obige Frage. Die Deutschen sollten unbedingt über den Holocaust Bescheid wissen, sollten bezüglich der Juden eine bestimmte Sensitivität zeigen, sollten aber mit keiner inhärenten Schuld ausgebildet werden oder aufwachsen, Deutsche zu sein.

Ein ausgewogener kultureller und nationaler Stolz, d.h. eine bestimmte Sicherheit mit sich selbst, ist meines Erachtens das beste Rezept für eine offene und tolerante Gesellschaft und steht den Deutschen genauso zu wie allen anderen Völkern. Zu viel Rede über die Shoa ist deswegen auch für die Deutschen weder nötig noch gesund. Auf eine gute Balance kommt es an.

Denn natürlich erinnern wir uns vor allem an das, was für uns Bedeutung hat. Der Holocaust ist zu einer Art Gründungsmythos der modernen abendländischen Ethik, der Ökumene, der offenen Gesellschaft und der Menschenrechte geworden. Er stellt sich als eine Kreuzigungserfahrung unserer Zeit dar (wie Marc Chagall das mehrfach gemalt hat), als eine Massenkreuzigung für die Ära der Massen. Deshalb werden wir wohl auch weiterhin noch sehr viel über den Holocaust lesen, hören und reden müssen.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 04/2015