Vor 25 Jahren in Garz auf Rügen Aus der Kirche in die Politik

In der Kirche Garz fing alles an, zu Jahresanfang 1990 gründete sich dann eine Bürgerinitiative. Unter anderem kündigte sie die ersten Wahlen an.

Foto: Archiv

01.02.2015 · Garz. Die Montagsdemos im Herbst 89 hatten eine Welle von Veränderungswut ausgelöst, auch auf Rügen. So gründete sich zu Jahresanfang vor 25 Jahren in Garz eine Bürgerinitiative. Pastor i.R. Sigismund von Schöning erinnert sich:

„Friedensgebet am 1. November 1989 um 19 Uhr in der St. Petrikirche zu Garz“ – so schrieben wir es in den Schaukasten am Gemeindehaus unserer Kirche im Süden von Rügen. Die Ereignisse in der DDR überschlugen sich in diesem Herbst, auch die Menschen in Garz und Umgebung waren aufgewühlt. Es musste etwas geschehen! Der Bürgermeister war krank, mein Kollege Superintendent Richard Mantei befand sich noch in Sachsen im Urlaub. Am 23. Oktober hatte er die größte Montagsdemo in Leipzig miterlebt. Nun wollte er früher aus dem Urlaub zurückkommen, um beim Friedensgebet dabei zu sein.

Werner Beug, stellvertretender Bürgermeister, bereitete ein Bürgergespräch am 2. November des Jahres im Saal der Gaststätte Charenza vor, gegenseitig luden wir uns zu den Zusammenkünften ein. Dann war es soweit: Wir standen am 1. November in der Kirche und sangen mit Gitarrenbegleitung ein Lied vom Frieden. Rund 250 Menschen waren gekommen. Beim Gebet wurde es sehr still. Aber als die Gelegenheit zum offenen Gespräch gegeben wurde, brachen alle Dämme. In bis dahin ungeübter Offenheit sprachen die Menschen Probleme an, die sie berührten, bedrängten und wütend machten: den politischen Druck, Versorgungsund Wohnungsprobleme…

Schon am nächsten Abend sollte das Gespräch in der Gaststätte Charenza weitergehen. Doch die Stühle reichten nicht aus, viele standen. „Was meinen Sie, ob wir in die Kirche gehen können?“, fragte mich der Bürgermeister. „Ich denke schon, aber das muss der Superintendent entscheiden“ flüsterte ich zurück. Plötzlich standen alle Anwesenden unaufgefordert auf, die meisten strömten in Richtung Kirche. Ich rief Superintendent Mantei an, der gerade ins Charenza aufbrechen wollte. „Ja, ich schließe die Kirche auf!“, war seine Antwort.

Das Bild vergesse ich nicht: Die Menschenschlange zog sich über Gräber und Büsche, das hölzerne Friedhofstor war zu Bruch gegangen. Dann wurden alle nur vorhandenen Sitzplätze eingenommen: im Kirchenschiff, auf der Empore, im Altarraum. Rund 400 dürften es gewesen sein.

Es brodelte und kochte in der Menge. Entschlossen trat Richard Mantei auf die Altarstufen: „Wir sind hier in einem Gotteshaus, also lese ich jetzt Gottes Wort“, rief er und trug Verse aus der Bergpredigt Jesu vor. Still hörten alle zu, doch dann wurde das, was die Menschen bewegte, ungehemmt ausgesprochen. Auch Vorwürfe gegen Anwesende von der Verwaltung wurden laut, es schien, als könnte jeden Moment eine Prügelei ausbrechen. In besonders kritischen Momenten riefen Einzelne aus den Reihen “Wir sind doch hier in einem Gotteshaus!“, dann hörte man wieder aufeinander. Als etwa der Wehrkundeunterricht in den Schulen hinterfragt wurde, konnte die Schulleiterin berichten, dass die Schulbehörde dieses vormilitärische Fach gerade gestrichen hatte.

In den nächsten Wochen trafen wir uns weiter zu Friedensgebeten und luden dazu auch Gäste ein, wie den späteren Landtagspräsidenten Hinrich Kuessner und einen Umweltexperten, um mit ihnen zu diskutieren. Ab Januar wechselten wir in den Gemeindesaal, machten schließlich Nägel mit Köpfen: Eine Bürgerinitiative mit ca. 40 Menschen gründete sich, ein Sprecherrat wurde gewählt. Wir Pastoren gehörten dazu. Wir wollten die Fragen, die jetzt aufkamen, an die richtige Adresse leiten, dafür sorgen, dass sie nicht verpufften, sondern etwas Gutes bewirkten auf dem Weg in das erträumte freie Land.

Ehemalige Garzer, die in den Westen geflüchtet waren und sich regelmäßig auf Norderney trafen, regten eine Städtepartnerschaft mit der Insel an. Wir sagten zu, später wurde diese Partnerschaft von der ersten gewählten Stadtvertretung bestätigt. Und als es im März 1990 zum ersten Mal freie Kommunalwahlen geben sollte, bereitete die BI sie vor. Der Sprecherrat lud alle Garzer zu einer Zusammenkunft ein, bei der sich die noch vorhandenen politischen Parteien vorstellten. Auch aus der Bürgerinitiative erwuchsen zwei Gruppierungen, die sich mit ihren Kandidaten zur Wahl stellten: der SPD-Ortsverein Garz und die „Freie Wählergemeinschaft Garz“ (FWG), zu der auch ich gehörte. Die Wählergemeinschaften in vielen anderen Orten sind später wieder eingeschlafen, unsere existiert heute noch. Und wenn auch nicht alle Erwartungen des Wendeherbstes erfüllt wurden, liegen in diesem bemerkenswerten Zeitabschnitt doch die Wurzeln für eine große ungewohnte Freiheit und für die Einheit unseres Landes. Wir konnten als Gemeinde dazu beitragen.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 05/2015