Was die Hauptaufgabe von Kirche und Theologie in der Corona-Krise ist An der Seite der Menschen

Von Henning Theißen

Wohin mit den Sorgen und Ängsten im Angesicht der Pandemie, wenn nicht zu Seelsorgern, die auch ans Krankenbett und in Heime kommen können?! – Viele vermissten ein entsprechend klares Wort der Kirchen.

Foto: epd-bild/Jens Schulze

09.08.2020 · Lüneburg. Es mehren sich die Kritiker, die den beiden großen Kirchen ein Versagen in den Wochen des Lockdown vorwerfen. Henning Theißen, Theologieprofessor an der Uni Lüneburg, hat die Zeit im Homeoffice genutzt, über seine Erfahrungen und Reflexionen in den letzten Monaten einige Aufsätze zu schreiben. Wir baten ihn um ein Resümee.

Noch ehe am 16. März wegen der Corona-Pandemie öffentliche Veranstaltungen untersagt wurden, erklärten die großen Kirchen im Land von sich aus die Einstellung des Gottesdienstes. Dass sie, die von Gottes Wort leben, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise schwiegen, ist ein Makel, den man nicht durch Hinweis auf die Kirchenjahreszeit (Passion) beschönigen sollte. Denn das Zentrum des christlichen Glaubens ist Gottes Wort, das in der Krise laut wird und gerade so aus ihr hinausführt. Dieses Wort schulden die Kirchen den Menschen in Krisenzeiten.

Viele theologische Äußerungen zu Corona, die nun verlauten, ringen darum, die Krise im Lichte von Gottes Wort zu deuten, was diese aber eher verschärft. Denn einerseits wird, wer alles zu deuten vermag, ein Verlangen nach Erlösung kaum mehr empfinden. Andererseits steckt die Corona-Krise selbst buchstäblich voller Theologie, indem sie die theologische Vorstellung destruiert, der Mensch sei die Krone (lateinisch: corona) der Schöpfung. (Ich bin dem in einer kleinen Aufsatzreihe nachgegangen: www.velkd.de/velkd-texte-187-Erschoepfte-Schoepfung.)

Ein Blick auf die neuere Kirchen- und Theologiegeschichte lehrt, dass die Ausdrücke „Krise“ und „Gottes Wort“ in der evangelischen Christenheit heute so gebraucht werden, wie die theologische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg es vor hundert Jahren bestimmt hat. Damals entstand um den Basler Theologen Karl Barth und seinen Kommentar zum Römerbrief (1919) die sogenannte „Dialektische Theologie“, die sich selbst als „Theologie der Krise“ und „Theologie des Wortes Gottes“ bezeichnete und die ein guter Kompass durch das von Krieg, Krisen und politischen Totalitarismen geschüttelte 20. Jahrhundert werden sollte.

Neben diesem politischen Aspekt vergisst man leicht, dass das Kriegsende 1918 mit der zweiten Welle der Spanischen Grippe zusammentraf. Barth selbst, seine Frau und die Haushaltshilfen erkrankten. Der Brief vom 11. November 1918, den er bei Genesung an E. Thurneysen schrieb, wurde vor Corona so interpretiert, dass Barth hier mit den Ereignissen um den Schweizer Generalstreik, der an diesem Tag ausgerufen wurde, mitfieberte. In Corona-Zeiten gelesen, rückt das Fieber selbst, die Grippe im Hause Barth, ins Zentrum dieses Briefes. Primär angesichts der Pandemie – und nicht der politischen Umstände – fühlt Barth sein eigenes Ungenügen und ruft mit Blick auf seinen eben vollendeten Römerbriefkommentar aus: „Hätten wir uns doch früher zur Bibel bekehrt, damit wir jetzt festen Grund unter den Füßen hätten!“ (GA V/3, 300)

Die Krise deckt Bestes und Schwächen auf

Gottes Wort bringt – und sei es durch Krieg und Krankheit – die Krise des Menschseins ans Licht und rettet gerade so aus ihr: Das war 1918/19 der Grundimpuls des Schweizer Reformierten Barth. Ganz anders der Lutheraner Karl Holl, später Rektor der Berliner Universität, der schon 1914 einem Freund schrieb: „Man stellt es überall mit Freude fest, daß der Krieg das Beste aus uns hervorgeholt hat.“ Holl meinte damit Dinge wie Gewissensernst und Opfermut, die fortan den „Nationalprotestantismus“ großer Teile der deutschen evangelischen Kirchen kennzeichneten.

Die Frage, ob Krisen die Schwächen von Menschen offenlegen oder ihr Bestes hervorkitzeln, ist unter Corona aktueller denn je. Doch was heißt Schwäche, und was ist das Beste? Die Theologie hat auf diese Fragen keine fertigen Antworten, sondern unterwirft sie dem Maßstab der Analogie Gottes. Zu Recht legen viele theologische Äußerungen zu Corona den Fokus und den Finger auf Gottes Allmacht, die eine Vorzüglichkeit Gottes, ein theologischer Beststandard ist. Dabei ist Allmacht nicht etwa besser als alle Macht sonst, denn das wäre als Vergleich ja nur ein Komparativ: „besser als“, aber nicht „am besten“.

Als Beststandard ist Gottes Allmacht nicht bessere, sondern andere Macht, die der so machttypischen Auseinandersetzung absagt und in Gottes Hinwendung zum Machtlosen besteht. Analog dazu ist unter Corona die Verletzlichkeit der sogenannten Risikogruppen, deretwegen im Frühjahr 2020 ganze Zivilisationen in den Lockdown gingen, als Antrieb neuen Zusammenhalts in allem social distancing zugleich das Gute, das man der Krise abgewinnen kann.

Wohlgemerkt, dieses Gute ist nur eine Analogie des Besten, das Gottes Allmacht ist. Die Hoffnung auf sie gilt der Erlösung von der Krise. Das Gute in der Krise ist aber die Menschen zugewandte Kehrseite dieser Hoffnung, die man Geduld nennt und die Gottes Weg an der Seite der Menschen weist.

Quelle: Mecklenburgische und Pommersche Kirchenzeitung Nr. 32/2020