Die monatliche Kolumne von Flüchtlingspastor Walter BartelsAugust 2016: Was hast du getan, Kain?

Orlando, Nizza, München, Ansbach, Würzburg… es fällt fast schon schwer, die einzelnen Mordtaten auseinanderzuhalten: was wo geschah und wer es tat. Und warum? Irrsinn und ein schwarzer Abgrund an Boshaftigkeit. Statistisch erfaßt werden nach der Tat meistens die Toten; die Verletzten geraten schnell in den Hintergrund. Von all den Verstörten und seelisch tief Erschütterten ist nicht mehr die Rede. Ohnehin ist jetzt Ferienzeit, und es stehen Sonne und Strand auf dem Programm, Entspannung und Fernweh.

Trotzdem: es gibt hilfreiche Menschen, die sich um die Hinterbliebenen kümmern; mit ihnen schweigen; die Tränen und den stummen Schmerz nicht weg reden; den Leidtragenden zuhören; vielleicht ein Wort, eine Geste, ein Gebet finden, das der Sinnlosigkeit etwas entgegensetzen kann…

Die Ermordung des 85-jährigen Priesters Jacques Hamel in Saint-Étienne-du-Rouvray in der Normandie hat mich besonders erschüttert. Warum, weiß ich nicht genau. Ist diese Bluttat schlimmer als die anderen? Wohl nicht. Um mich selbst zu trösten, zu beruhigen, habe ich mir jetzt öfter das letzte Stück aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms angehört: 'Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach' (Offenbarung 14,13). Musik und Text können etwas, was wie aus einer anderen Welt kommt.
  
Jacques Hamel, eigentlich seit zehn Jahren pensioniert, machte eine Urlaubsvertretung für seinen jungen Kollegen. Er las eine Messe, wie er es seit seinem 28. Lebensjahr unzählige Male getan hatte. Fünf Leute sind in der Kirche, als der Überfall geschieht. Der Priester versucht noch mit den Eindringlingen zu reden – vergebens. Er tut als letztes das, was er an seinem Ort oft getan hat und was zu seinen 'Werken' gehörte: Gespräch, Verständigung zu suchen mit muslimischen Mitbürgern, Freundschaft mit dem Imam der Moschee am Ort. Das wird vielen in Erinnerung bleiben. Zum Abschiedsgottesdienst in der Kathedrale von Rouen kamen auch viele Muslime. Ein sichtbares, bewegendes Zeichen.

Und der Zorn? Was ist mit dem Zorn über diese Tat? Es hieß, die Imame der Gegend würden den Tätern ein Begräbnis nach islamischem Ritus verweigern.
Es gibt sie, muß sie geben: spürbare Grenzen des Tolerablen, des Verstehbaren. Mag sein, daß ein Anderer 'verstehen' kann. Aber Er wird sicher bohrend fragen.
 
Walter Bartels