Die monatliche Kolumne von Flüchtlingspastor Walter BartelsFebruar 2016: Zum Beispiel Joudy

Vielleicht ist sie früher mit ihrer Mutter manchmal durch den Bazar in Aleppo gegangen. Bummeln, Feilschen, Einkaufen. Die Farben und Gerüche einsaugen.

In diesen Tagen dachte ich öfter wieder an Joudy und ihren Großvater. Den Bazar gibt es nicht mehr. Er ist zerstört, wie so viele Häuser, Moscheen, Kirchen auch. Die Stadt Aleppo, 3800 Jahre alt: ein Bild des Grauens. Joudy konnte entkommen; die 15-jährige tauchte mit ihrem Großvater im März 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Horst auf. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht. Im Juni hatte ich Gelegenheit zu einem Gespräch mit den beiden. Meistens redete Joudy, in ziemlich gutem Englisch:

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, Anfang März. Wir waren bei meinem Onkel zu Besuch in Damaskus. Da kam die Nachricht, daß unser Haus in Aleppo in Schutt und Asche liegt, der ganze Stadtteil. Bomben waren gefallen. Uns wurde gesagt: Es ist alles kaputt, euer Haus. Mehrere Nachbarn sind tot. Oder verletzt, auch meine Freundin.
Wir waren völlig geschockt. Du mußt wissen, daß es in Syrien seit Jahren Krieg gibt. Aber du denkst nicht, daß es dich trifft; du denkst, daß du irgendwie durchkommst und daß es irgendwann aufhört. Wir wollten zurück nach Aleppo, um etwas aus den Trümmern zu retten. Aber die Straße war gesperrt: überall Panzer, Bewaffnete, sagte man uns; die würden jetzt auf Damaskus vorrücken.

Wo sollten wir hin? Wir mußten schnell entscheiden. Mein Onkel hatte zum Glück Geld.
Naja, und dann sind mein Großvater und ich, meine Mutter und ihr Bruder mit dem Bus nach Beirut gefahren. Dort haben wir uns getrennt: meine Mutter und ihr Bruder gingen in die Türkei zu Verwandten; das ist dichter an Syrien dran. Mein Großvater und ich flogen von Beirut nach Istanbul; von dort ging es mit dem Schiff auf eine griechische Insel, dann nach Athen. Dann
(Joudy sieht eine Zeitlang aus dem Fenster) sind mein Großvater und ich in einem LKW-Container drei Tage und Nächte bis nach Hamburg gekommen. Es war schrecklich. Ich hatte solche Angst, daß wir in dem Container eingesperrt bleiben, vergessen werden oder verhungern. Wir haben oft im Dunkeln gebetet; ich glaube, alle haben das getan. Das hörte man ja immer…
Der Fahrer hat 6.000 € verlangt; von den anderen wohl auch. Der ist reich geworden, wir hatten fast nichts mehr.

Als wir in Hamburg ankamen und die Tür des Containers aufging, haben wir geweint vor Freude, obwohl wir völlig kaputt waren. Ja, und jetzt sind wir hier.
Meine Mama habe ich seit Wochen nicht mehr gesehen. Manchmal kann ich mit ihr kurz telefonieren. Sie ist noch in der Türkei. Ich weiß nicht, wann ich sie wiedersehe.

Ich würde sofort zurückgehen. Nur sag mir: wie? Es ist alles kaputt. Ich will die Schule fertig machen. Dann will ich studieren, Mathematik oder Physik, da war ich sehr gut in der Schule. Jetzt bin ich hier und überlege jeden Tag, wie ich die Haare trage oder ein Kopftuch umbinde (Sie wirft ihr langes dunkles Haar gekonnt nach hinten). Die Männer und Jungs hier gucken mich immer so an, wenn ich draußen bin. Hier drinnen wohne ich mit meinem Großvater zusammen in einem Zimmer. Ist das richtig? Nein! Ich weiß, ich bin sehr ungeduldig. Ich muß warten. Also warte ich – hoffentlich nicht so lange, bis ich alt bin.


(Das Gespräch wurde im Juni 2015 geführt und aufgeschrieben.)