Die monatliche Kolumne von Flüchtlingspastor Walter BartelsJanuar 2016: Erregung als öffentliches Ärgernis

Erst der Jahreswechsel mit Böllern und Sektkorken; dann, als das Knallen verklungen war, die mediale Explosion. Selten wohl hat ein Ereignis wie das auf dem Kölner Domplatz die Gemüter aus dem Stand so sehr erregt, aufgeschreckt, in Rage gebracht. Kommentatoren, sprachlos vor Fassungslosigkeit, schreiben sich Zeile um Zeile von der Seele; Polizei und ratlose Politik ringen versiert-ratlos um Erklärungen; Vermutungen und Schuldzuweisungen werden blanko ausgegeben; soziale und asoziale Netzwerke überschwemmen den Äther mit Wogen der Empörung und Wellen des Hasses. Plötzlich wissen ganz viele, was zu tun ist: Ausweisen. Kastrieren. Sexualstrafrecht verschärfen. Im Herkunftsland einknasten. Gastrecht verwirkt... Daß man erst mal wartet, recherchiert, nachdenkt – das geht in einer Stimmungsdemokratie nicht, deren Sensoren ständig mit scharfen Reizen und Skandalen jeder Art versorgt werden müssen. 
 
Damit das klar ist: die Angriffe auf Frauen und Mädchen in Köln, Hamburg und Stuttgart sind nicht hinnehmbar. Mich macht es wütend, daß jene Migranten und auch Flüchtlinge, aus Nordafrika oder von anderswo her, mit ihren sexistischen Attacken allen anderen Flüchtlingen und deren Unterstützern einen Bärendienst erwiesen haben. Wollten sie das gar? Wenige der angegriffenen Frauen haben sich  öffentlich zu Wort gemeldet. Was sollen sie auch sagen, wo sie in der aufgeheizten Debatte über das Geschehene längst zu bloßen Nebenfiguren beiseite erklärt werden? Wenn schon Erklärungen und Kommentare, dann leuchteten mir die von muslimischen AutorInnen am meisten ein: Khola Maryam Hübsch (TAZ), Ahmad Mansour  (SZ), Hamed Abdel-Samad (Cicero) oder auch Sibel Kekilli. Sie scheuen sich nicht, die auffälligen 'Beziehungsstörungen' zwischen Sexualität und ihrer Herkunftskultur und  -religion anzusprechen. Solche Offenheit und Realitätswilligkeit kann zu Klärungen und zum nicht verhandelbaren Respekt von Männern gegenüber Frauen beitragen.  

Wo bleibt das kritisch nachdenkliche Pendant dazu bei den hiesigen Empörern? Das war ausgesprochen unheimlich an der Kommentarlage zur Sylvesternacht: In der immer neu beheizten Pauschaldebatte über 'kriminelle Ausländer' ging ein Skandal-Bericht fast unter, wurde kaum wahrgenommen oder kommentiert: der Bericht über die jahrelangen Mißbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen. Von bis zu 700 Jungs geht der (immerhin von der katholischen Kirche beauftragte) Rechtsanwalt und Ermittler Ulrich Weber aus. Wo ist der Aufschrei der 'Anständigen' über diese kriminellen Taten; wo die Empörung bei denen, deren Zeigefinger nur die ausländische Richtung kennt?! –

Ich finde es schwer, den Kopf arbeitsfähig zu halten in dem ganzen Stimmengewirr. Irgendwann zwischendurch tauchte vor meinem inneren Auge dieser sonderbare Mann auf, der da am Boden hockt und irgendwas in den Sand schreibt. Um ihn herum eine kriminalistisch erregte Menge der Anständigen. Mittendrin eine schon vorab Schuldig-gesprochene: Alibifigur der Erregung. 'Die ganze Härte des Gesetzes' steht zur Debatte! Steinigen! Weg mit der aus unserer Mitte! Der Sandschreiber läßt sie zappeln, die Anständigen, nimmt sich Zeit für eine angemessene Reaktion. "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie" (Johannes 8,7). Wie‘s dann weitergeht, kann man nachlesen.

Wie sehr ich den Mann beneide! Wenn ich das auch könnte oder sonst jemand: Ein Satz, der reicht und wieder atmen läßt. Ein Wort, das die Szene durchlüftet und klärt. Ein Auftritt, der zum Einrollen der Zeigefinger führt. Ihn, diesen Sandschreiber, sollten wir uns gut merken.    

Walter Bartels