Juli 2015: Kommentar zum Thema "Flucht und Flüchtlinge""MeerBlick" - Flüchtlingsboot MS Anton auf der Warnemünder Woche

Während der Warnemünder Woche (4. bis 12. Juli) lag das Flüchtlingsboot MS Anton vertäut am Alten Strom. Mit 70 lebensgroßen Skulpturen, auf dem Schiff installiert, macht der dänische Künstler Jens Galschiøt auf die Situation von Flüchtlingen aufmerksam: wortlos und doch vielsagend. Hunderte von Menschen gingen, wie immer im Sommer, hier vorbei auf dem Weg zum und vom Strand, beim Flanieren und Bummeln. Das Schiff mit seinen Skulpturen war nicht zu übersehen in seiner Eindrücklichkeit. Viele schauten, schauten weg, schauten wieder hin, kamen später noch mal vorbei; manche erkundigten sich, wollten mehr wissen über die fremden Gestalten, die da an Bord zu sehen waren. Selten habe ich das Thema "Flucht und Flüchtlinge" so eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen wie hier.

Was ich vor allem bewegend fand: Nicht wenige der Skulpturgestalten schauten mich vom Schiff her direkt an – und schauten mich nicht an. Ihre Augen sind auf mich gerichtet, doch etwas fehlt diesen Augen. Man sagt, das Auge eines Menschen sei das Fenster zur Seele. Es scheint so, als ob an diesen Augen etwas verloren gegangen ist, was mal da war; oder hat es sich ganz weit ins Innere, ins Verborgene  zurückgezogen? Was man an diesen Augen sieht und zugleich nicht sieht, irritiert zutiefst. Es ist anstrengend, diesen Augen standzuhalten. Die schweigenden Blicke vom Schiffe her erzählen Geschichten und Erlebnisse, Geschichten von einem Weg, von dem uns wohl jede Vorstellung fehlt. Wann und warum dieser Weg begonnen hat; wo er begonnen hat; ob er nicht schon begonnen hat lange vor dem Betreten des Schiffes, gar vor der Entscheidung für die Schiffspassage; wohin er führen könnte –  wer weiß das schon…? Wer diese Kunstaktion nicht gesehen hat, hat etwas verpaßt.

In einer Veranstaltung in der Warnemünder Kirche haben wir über Fluchtursachen nachgedacht: warum Menschen alles hinter sich lassen und so gefahrvolle, oft tödliche Wege über das Meer riskieren. Es vergeht ja kaum ein Tag, an dem nicht wieder ein Kutter oder ein Boot auf dem Mittelmeer von Schiffen der Küstenwache oder der Marine  aufgebracht wurde und meist mehrere hundert Menschen gerettet wurden.

Viele Gründe, dringliche, haben Menschen für ihre Flucht: Politische Repressionen, Folter, religiöse Diskriminierung, nacktes Elend, Krieg und Terror – sie sind nicht erst vor kurzem entstanden. Aber etwas scheint sich seit einiger Zeit fundamental geändert zu haben und bringt Menschen in  großer Zahl in Bewegung zu uns:

  • Über Jahrzehnte konnte es in der sogenannten Ersten Welt gelingen, die Augen mehr oder weniger zu verschließen vor den Fluchtursachen, die Menschen es in ihrem Land nicht mehr aushalten lassen. Vieles war einfach weit weg für uns; Entfernungen waren wirklich welche; unser Horizont begrenzt. Die Augen verschließen geht heute immer weniger, seit die digitale Globalisierung uns sehend und wissend zu "Nonstop-Fernsehern", zu ebenso unfreiwilligen wie vielfach auch medien-süchtigen Augenzeugen und Mitwissern der Fluchtgründe gemacht hat. Der Segen (wenn man denn so will) der kommunikativen Erleichterungen durch Internet und soziale Medien fällt entdeckend, entzaubernd, ernüchternd auf uns zurück: sehr ungünstig für unsere Verdrängungswünsche, für unser Nicht-wahr-haben-Wollen. Alles Ferne läßt sich im Nu herbeiklicken, heranholen und präsent machen (natürlich auch wieder distanzierend wegklicken), wenn auch selten so eindrücklich wie die faszinierend-befremdlichen "Augenblicke" auf die MS Anton.
  • Umgekehrt: Auch die Menschen in der früher so genannten Dritten Welt haben an dieser technisch-kommunikativen Entwicklung mehr und mehr teil. Sie wissen, via Internet und facebook mehr und mehr, wie in anderen Teilen der Welt gelebt wird und wie man leben kann; daß man überleben kann und nicht hungern muß. Sie fragen sich, wie das dort gehen kann, angesichts der Zustände in ihren eigenen Ländern. Sie sind umgetrieben von der puren, medial vermittelten Möglichkeit erträglicher Lebensumstände. Und die Kritischeren unter ihnen erkundigen sich mehr und mehr nach dem Schicksal der aus ihrem Land abtransportierten Rohstoffe und reisen ihnen nach. Sie ahnen, daß ihr Elend nicht gottgegeben, sondern vielfältig menschengemacht ist. Sie lassen sich nicht mehr abschrecken von lebensgefährlichen Routen durch die Sahara oder über das Mittelmeer.

Und dann kommen sie hierher, sehen sich um, sehen uns an, sehen uns in die Augen – etwa wie die Gestalten auf der MS Anton: nur mit dem Unterschied, daß es reale, wirkliche Menschen sind, denen wir bei uns begegnen.

Walter Bartels